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«Das Spiel ist ein Experimentierfeld für alles, was den Menschen ausmacht»

Inwieweit birgt der Konsum von Videospielen oder Smartphones in einer tendenziell voll digitalisierten Gesellschaft die Gefahr einer unkontrollierbaren Sucht? Anlässlich der Stakeholderkonferenz Nationale Strategie Sucht und Netzwerktagung Psychische Gesundheit Schweiz 2021 beleuchtet Dr. Philippe Stephan, Kinderpsychiater, Privatdozent und Lehr- und Forschungsbeauftragter an der Fakultät für Biologie und Medizin der Universität Lausanne, diese Debatte.

Wann sprechen Sie von gestörtem Bildschirmverhalten?

Kinder und Jugendliche befinden sich per Definition in der Entwicklung, und diese Frage ist komplexer, als es den Anschein hat. Die Antwort hängt vor allem vom jeweiligen Kontext ab. So können manche Jugendliche fünfzehn Stunden vor dem Bildschirm verbringen, ohne dass dies krankhaft ist, während für andere bereits zwei Stunden vor dem Bildschirm problematisch sein können. Der Hauptfaktor in der Frage, ob man von einer Störung sprechen muss, ist das Verhalten der betroffenen Person gegenüber dem Bildschirm. Es besteht ein Risiko, wenn der Bildschirm zu Isolation und Einsamkeit führt. In extremen Fällen wird dies als Hikikomori-Syndrom bezeichnet. Dieser japanische Begriff bezieht sich auf junge Erwachsene, welche die Welt erkunden, ohne in der Realität zu sein. In gewisser Weise holen sie die Welt in ihr Zimmer und haben somit keinen Grund, dieses zu verlassen. Dieses Phänomen ist in der Schweiz noch selten, aber in den Sprechstunden nimmt die Zahl der Fälle zu.

Generell sind Störungen in Bezug auf das Bildschirmverhalten bei Kindern und Jugendlichen statistisch schwer zu erfassen. Vor Ort können wir jedoch eindeutig feststellen, dass in den letzten zehn Jahren eine Zunahme zu verzeichnen war. Wie in den 1990-er Jahren wegen Cannabis werden wir auch jetzt häufig in die Schulen gerufen. Dieses Phänomen hat wahrscheinlich seinen Höhepunkt erreicht und dürfte abnehmen, wenn die Eltern selbst ehemalige Spieler sind.

Weisen Kinder und Jugendliche, die darunter leiden, gemeinsame Merkmale auf?

Es gibt eine grosse Fallvielfalt, welche die gesamte Bevölkerung betrifft. In den Sprechstunden sehen wir jedoch viele Jugendliche, die sich in der Schule schwertun oder Mühe haben, selbstständig zu lernen. Vor dem Bildschirm finden sie Befriedigung und Erfolgserlebnisse in diesem interaktiven System, das von Zeit zu Zeit ihr Selbstwertgefühl stärkt. Manche erhalten sogar nur dann Anerkennung, wenn sie vor ihrem Bildschirm sitzen, was den Teufelskreis «Bildschirmkonsum – Selbstwertgefühl» noch verschärft.

In ähnlicher Weise können junge Mädchen Bildschirme nutzen, um Selbstvertrauen aufzubauen und sich selbst neu darzustellen, insbesondere in Bezug auf ihre körperlichen Veränderungen. Über Anwendungen wie TikTok suchen sie den Blick von aussen, der ihnen bestätigt, dass sie zu Teenagern werden. Auch wenn es zu Auswüchsen kommt, wäre es falsch, dies als sexualisierte Provokation zu verstehen.

Manchmal spiegelt die exzessive Bildschirmnutzung auch andere Probleme wider, zum Beispiel Konfliktsituationen in Paarbeziehungen. Hier ist der Bildschirm ein Indikator für elterliche Erziehungsdifferenzen.

Hat die Covid-19-Pandemie die Situation verändert?

Nicht mehr als bei den Erwachsenen, denn wir waren alle im Lockdown. Durch die Pandemie sind Schwächen und Freuden stärker hervorgetreten. Und natürlich haben Jugendliche, für die der Bildschirm die einzige Möglichkeit zur Steigerung des Selbstwertgefühls ist, diesen noch mehr genutzt. Für ängstliche Persönlichkeiten war der Lockdown sogar ein Glücksfall, da sie sich damit in ihrer Angst vor der Aussenwelt bestätigt fühlten. Manche hatten Mühe, nach der Aufhebung des Lockdowns zu mehr Normalität zurückzukehren. Einen besonders hohen Preis zahlten die 18- bis 25-jährigen Studierenden. Mehr noch als die Auszubildenden, die einen direkten Bezug zur Arbeitswelt hatten. Die Studierenden waren nicht in der Lage, die sozialen Bindungen zu knüpfen, welche die Grundlage des «Studentenlebens» bilden. 

Wie können Kinder und Jugendliche aus der Bildschirmabhängigkeit herauskommen?

Erwachsen zu werden ist für den Menschen nicht einfach. Er muss sich dabei mit der Realität, ihren Zwängen und Anforderungen sowie ihren zufälligen Seiten auseinandersetzen. Wenn wir Beziehungen zu anderen eingehen, werden wir mit Frustration und emotionaler Abhängigkeit konfrontiert. Wir müssen uns auch mit Gesetzen abfinden, die unsere Freiheit einschränken. Im Spiel können wir all diese Probleme lösen. Soziale Interaktionen und Teamspiele ermöglichen uns, Bindungen zu knüpfen, Emotionen zu verspüren, Regeln auszuarbeiten und einzuhalten, wodurch eine Form von Freiheit entsteht. Das Spiel ist ein Experimentierfeld für alles, was den Menschen ausmacht. Man kann Jugendlichen und Heranwachsenden nur raten, zusammen zu spielen und keine Angst vor dem Erwachsenwerden zu haben.

Was ist Ihre Botschaft an die Teilnehmenden der Stakeholderkonferenz?

Die Beziehung zu Bildschirmen verändert sich ständig. Wo es diesbezüglich einen Generationengraben gab und gibt, wird dieser in Zukunft verschwinden. Immer mehr Eltern sind selbst Digital Natives, das heisst, sie wurden mit Bildschirmen und dem Internet geboren. In Bezug auf die öffentliche Gesundheit müssen wir zunächst die Eltern aufklären. Die Erwachsenen müssen davon überzeugt werden, dass es trotz der Krisen oder des Klimawandels wichtig ist, unsere Werte, Bedürfnisse und Wünsche in den Vordergrund zu stellen. Das hindert uns aber nicht daran, uns über die Praktiken der Jugendlichen zu informieren und den Dialog mit ihnen fortzuführen. Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses ist in diesem Alter manchmal schwierig. Es ist daher ratsam, die Geheimnisse der Jugendlichen zu akzeptieren, das Vertrauen ein wenig zurückzustellen und auf dem Dialog zu beharren.

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