
Prävention ist eine verfassungsmässige Aufgabe des Staates. Die Rahmenbedingungen dafür soll das neue Präventionsgesetz mit dem geplanten nationalen Kompetenzzentrum schaffen.
Feb. 2010Nationales Präventionsgesetz
Streitgespräch mit Ursula Zybach und Fridolin Marty. Über die Wichtigkeit von Prävention sind sich Ursula Zybach von der Krebsliga Schweiz und Fridolin Marty von economiesuisse einig. Doch beim Präventionsgesetz scheiden sich die Geister. Das Gesetz sei im Wesentlichen um ein elitäres Institut gebaut, das kaum Probleme löse, meint Fridolin Marty. Für Ursula Zybach hingegen schliesst das Gesetz endlich eine grosse Lücke in der Schweizer Gesundheitspolitik.
spectra: Ist es sinnvoll, in Prävention zu investieren? Wenn ja, wer soll das tun?
Marty: Grundsätzlich ist es sinnvoll. Weil präventive Massnahmen durchaus positive Wirkungen haben können und den kurativen Massnahmen zum Teil überlegen sind. Zum Beispiel wenn es darum geht, chronische Krankheiten zu besiegen oder einzudämmen. Und es gibt verschiedene Player im Gesundheitsbereich, die davon monetär profitieren, beispielsweise Versicherer oder der Staat, wenn es darum geht, die Sozialkosten zu reduzieren, und natürlich profitieren auch die Individuen. Die Frage ist, wer Prävention leisten soll und wo. Meiner Ansicht nach sollte sich der Staat nur subsidiär im Präventionsbereich betätigen.
Zybach: Es freut mich sehr, dass wir in dieser Grundsatzfrage einig sind. Unzählige Studie zeigen deutlich, dass Prävention wirkt. Der Staat trägt eine grosse Verantwortung für Prävention. Er ist gemäss Bundesverfassung verpflichtet, die Gesundheit seiner Bevölkerung zu schützen. Für die nichtübertragbaren und bösartigen Krankheiten wie Krebs oder Kreislauferkrankungen, die einen grossen Teil der Bevölkerung betreffen, gab es bisher keine Gesetze oder Verordnungen. Das ist eigentlich ganz erstaunlich, und ich bin froh, dass man diese Lücke jetzt schliessen will.
Marty: Da ist schon der erste Meinungsunterschied. Der Staat hat sicher gewisse Aufgaben im Präventionsbereich. Dazu gehören Massnahmen im Zusammenhang mit übertragbaren Krankheiten, zum Beispiel das Impfen, und die Bereitstellung einer Infrastruktur zu Gesundheitserhaltung.
In welcher Hinsicht sind Sie nun anderer Meinung als Frau Zybach?
Marty: Sie hat gesagt, der Staat ist verantwortlich für die Prävention. Mir geht das zu weit. Ich bin überzeugt, dass gerade bei den nichtübertragbaren Krankheiten die privaten Initiativen sehr viel effizienter sind. Zum Beispiel in der betrieblichen Gesundheitsförderung.
«Wir müssen der Bevölkerung das aktuell verfügbare Wissen zugänglich machen und die Strukturen optimieren, damit ein Optimum an Lebensfreude und Lebensqualität ermöglicht werden kann.»
Ursula Zybach
Diese ist enorm wichtig. Der Staat muss lediglich ein paar Rahmenbedingungen setzen und ein paar Anreize geben, und das Ding läuft. Die Stehpulte kommen und die Früchtekörbe werden gefüllt ...
Wovon soll der Staat grundsätzlich seine Finger lassen?
Marty: Bei den nichtübertragbaren Krankheiten und deren Risikofaktoren kann der Staat mit vernünftigem Mitteleinsatz nicht viel bewirken. Den Lebensstil, beispielsweise die Ernährungs- oder Bewegungsgewohnheiten, der Leute zu ändern, ist sehr schwierig.
Also haben wir beispielsweise das Recht, uns ungesund zu ernähren?
Marty: Absolut. Alles andere wäre eine totalitäre Horrorvision.
Zybach: Zu wenig Bewegung, unausgewogene Ernährung, übermässiger Alkoholkonsum und Rauchen verursachen in der Schweiz jedes Jahr Kosten von 20 Milliarden Franken. Es ist deshalb nicht sinnvoll, die nichtübertragbaren Krankheiten auszuklammern. Das Präventionsgesetz ist ein Rahmengesetz, das keine Einschränkungen beinhaltet und keine Richtlinien oder Vorschriften zum Verhalten vorgibt! Aber wir müssen der Bevölkerung das aktuell verfügbare Wissen zugänglich machen und die Strukturen optimieren, damit ein Optimum an Lebensfreude und Lebensqualität ermöglicht werden kann. Deshalb ist das nicht einfach nur Privatsache.
Marty: Es ist natürlich Staatsaufgabe, Daten zu erheben und zu informieren. Das ist ja auch Teil der Prävention. Aber ich bin gegen Eingriffe in das individuelle Leben. Zum Beispiel sollte viel mehr Gestaltungsfreiheit in der Grundversicherung geschaffen werden. Man müsste sich geschickte KVG-Regeln ausdenken, damit die Krankenversicherer einen Anreiz dazu hätten, präventiv aktiv zu werden, so wie heute die Suva. Sie sagen, der Staat sollte ein Problem lösen, das eigentlich das Problem der Versicherer und der Versicherten ist. Mein Ansatz ist von unten her. Die Prävention muss dort ausgelöst werden, wo die Probleme sind. Beim Einzelnen, bei der Familie, im Verein, und dann gehts hoch in die Gemeinden, die Kantone, bis hinauf zum Staat.
Wie sollte die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen aussehen?
Marty: An der kantonalen Hoheit im Gesundheitswesen gibt es nichts zu rütteln. Aber ich sehe natürlich auch, dass der Föderalismus etwas kostet – in gewissen Bereichen vielleicht zu viel. Die Aufgaben des Bundes liegen bei den übertragbaren Krankheiten und bei der Datenerhebung und den Zielsetzungen. Aber die Umsetzung können nur die Kantone machen, oder Private mit Leistungsaufträgen.
Zybach: So ist es ja auch im Präventionsgesetz vorgesehen.
Marty: Ja, aber nur zum Teil. Mit dem Institut wird ein Moloch geschaffen, der sich selber beschäftigt.
Zybach: Von einem Moloch kann nicht die Rede sein – die bisher vorhandenen finanziellen und personellen Ressourcen werden gebündelt und damit wird ein Kompetenzzentrum geschaffen, das sich effizienter als heute um Prävention und Gesundheitsförderung kümmern kann.
Als Mann der Wirtschaft müssten Sie Tendenzen der Rationalisierung befürworten, Herr Marty. Sie können kaum wollen, dass jeder Kanton das Rad für sich erfinden muss.
Marty: Absolut. Wissenstransfer ist Aufgabe des Bundes. Aber eine Gesellschaft muss nicht funktionieren wie eine Firma. Föderalismus hat seinen Preis. Und wo dieser zu hoch ist, soll man grössere Einheiten bilden können. Aber Föderalismus hat auch sehr viel Nutzen. Dies hat viel mit Identität zu tun, und Identität ist auch etwas, das die Leute gesund hält.
Wie sehen Sie die Aufgabenteilung, Frau Zybach?
Zybach: Das Präventionsgesetz ist ein Rahmengesetz. Es enthält jene Aspekte, die der Bund regeln kann und soll. Das andere bleibt so, wie es war. Sinnvoll finde ich, dass unter anderem die Kantone im Institutsrat vertreten sein werden. So hat man eine gute Ausgangslage, um die nationalen Präventions- und Gesundheitsförderungsziele zu konzipieren und anschliessend umzusetzen. Diese Gesamtsicht aus einer adäquaten Distanz fehlt heute.
Herr Marty, was wäre Ihr Gegenvorschlag zum Präventionsinstitut? Wie soll der Bund zum Beispiel effizient Wissen vermitteln, wenn nicht über ein Institut?
Marty: Ich habe immer Bedenken, wenn man Institutionen aufgrund von Missständen schafft. Ich würde die bestehende Gesundheitsförderung Schweiz beibehalten, dort sind alle Stakeholder dabei. Beim geplanten Institutsrat ist dies nicht der Fall. Es sind neun Sitze, drei sind für die Kantone, einer ist für die Versicherer und die restlichen fünf Sitze sind für frei wählbare Präventionsenthusiasten reserviert, sag ich jetzt mal. Das sind sicher ganz gescheite Leute. Aber sie werden immer die Mehrheit haben, die Abstimmungen werden im Zweifelsfall fünf zu vier ausgehen.
«Für uns ist das Institut nicht sakrosankt, Hauptsache die nationale Koordination ist sichergestellt.»
Ursula Zybach
Ich finde das falsch, wenn Experten im Elfenbeinturm das Sagen haben. Der Ansatz von Gesundheitsförderung Schweiz ist tendenziell richtig, aber auch nicht perfekt. Denn die Stiftung kann mit den zwangsweise erhobenen CHF 2.40 der Versicherten machen, was sie will, und frei entscheiden, ob sie etwas selber machen oder extern geben will. Das hat natürlich zur Folge, dass die Gesundheitsförderung Schweiz immer grösser wird. Aber das wird mit dem Institut genau gleich bleiben. Es wird sich das Geld auch lieber selbst geben als andern.
Frau Zybach, wie stehen Sie zum Institut?
Zybach: Die Diskussionen in den letzten Monaten haben gezeigt, dass das Institut als grosses Problem erachtet wird. Über diesen Punkt müssen wir unbedingt sorgfältig nachdenken und überprüfen, ob es nicht sinnvollere Lösungen gibt. Man kann nicht auf einer übergeordneten Ebene Strategien und Ziele definieren, alle bisherigen Programme und Aktivitäten weiterführen und Gesundheitsförderung Schweiz oder den Tabakpräventionsfonds unverändert beibehalten. Das ist auch aus rein wirtschaftlicher Sicht nicht möglich. Wir sind bereit mitzuhelfen, andere, noch bessere Lösungen zu finden, die mehr Akzeptanz haben.
«Ich bin gegen Eingriffe in das individuelle Leben.»
Fridolin Marty
Es gibt einen grossen Konsens, dass Prävention eine wichtige Aufgabe ist. Diesen Konsens wollen wir nicht gefährden. Für uns ist das Institut nicht sakrosankt. Hauptsache, die nationale Koordination ist sichergestellt.
Sie haben Angst, dass die Vorlage am Institut scheitern könnte?
Zybach: Ja, und das darf nicht sein! Ich bin überzeugt, dass man eine gute Lösung finden wird. Grundsätzlich kann das Parlament bei der Debatte des Gesetzes auch entscheiden, die Artikel übers Institut zu streichen. Für mich stellt das Institut aber durchaus eine
gute Lösung im Sinne der Corporate Governance dar. Mit dem einzigen Schwachpunkt, dass das Institut sowohl Geld verteilt als auch Projekte durchführt.
Herr Marty, sind Sie auch für ein Kompetenzzentrum?
Marty: Natürlich braucht der Bund irgendeine Stelle. Aber im BAG besteht ja bereits eine Abteilung Prävention. Die könnte sehr viele koordinative Aufgaben übernehmen.
Würden Sie die Vorlage ohne das Institut befürworten?
Marty: Nein, diese konkrete Fassung nicht. Sie müsste schon anders aussehen. Wenn man aus dieser Vorlage das Institut rausnimmt, bleibt nicht mehr viel übrig. Man hat sehr viele Probleme noch nicht gelöst. Die Vorlage wurde einfach um das Institut herum gebaut. Das ist mein Hauptvorwurf.
Zybach: Das stimmt so nicht: Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Argumente der Gegner um das Institut herum gebaut sind! Das Institut ist einfach die koordinierende Organisationseinheit, die zum Gesetz gehört, Lösungen entwickelt und umsetzt.
Das Präventionsgesetz könnte eine Flurbereinigung nach sich ziehen. Gibt es Widerstände von NGOs im Präventionsbereich, die um ihre Existenz fürchten?
Zybach: So wie ich diese verschiedenen Organisationen kenne, werden sie nicht ihre Ängste in den Vordergrund stellen und das eigene Gärtchen schützen, sondern sich in den Dienst der nationalen Ziele und der Professionalität stellen. Ausserdem verändert sich die Wirtschaftslage. Spenden und Subventionen des Bundes könnten zurückgehen und Leistungsaufträge aufgehoben werden. Vor allem für kleinere Organisationen wird es in den nächsten Jahren sicher schwieriger werden, allein Aktivitäten durchzuführen.
Wie stark kann man die Krankenversicherer bei der Prävention in die Pflicht nehmen?
Marty: Man müsste sie in die Pflicht nehmen, aber nicht ohne ihnen mehr Spielraum zu geben. Sie können nicht gleichzeitig als Kostenerstatter figurieren und auch noch Prävention machen. Die Krankenversicherer brauchen mehr Gestaltungsfreiheit, wie zum Beispiel die Suva.
«Der Staat muss lediglich Rahmenbedingungen setzen und ein paar Anreize geben, und das Ding läuft.»
Fridolin Marty
Die Versicherer haben sehr viel Know-how bezüglich Sparpotenzial. Sie haben ja auch das beste Datenmaterial. Aber sie sind viel zu wenig in das Gesetz eingebunden. Das ist ein grosses Problem dieser Vorlage. Die Beziehung zwischen Grundversicherung und Prävention wird kaum beschrieben.
«Eine Gesamtsicht aus einer adäquaten Distanz fehlt heute.»
Ursula Zybach
Zybach: Ich finde es aber schwierig, wenn Versicherungen frei entscheiden können. Denn es ist ja nicht ihr Geld, sondern es sind unsere Prämiengelder, die eingesetzt werden für – nennen wir es – eine Kombination aus Prävention, Gesundheitsförderung und Marketing. Es gibt viele spannende und gute Projekte von Krankenversicherungen. Aber oft sind es Einzelaktionen, die nicht viel zur Chancengleichheit beitragen oder national etwas nachhaltig verändern.
Ein Flickwerk an Initiativen ist also fragwürdig. Genau das macht aber auch die Wirtschaft. Wie sollte sie in die Pflicht genommen werden?
Zybach: Es gibt gute Projekte. Viele sind aber nicht so nachhaltig oder setzen am falschen Ort an, nämlich beim Kader und nicht bei weniger qualifizierten Mitarbeitenden. Am meisten nützen würden zum Beispiel Mindestlohnerhöhungen, damit wir keine «Working Poor» hätten. Das wäre viel effektiver als Früchtekörbe oder mehr Stehtische. Je grösser die Einkommensschere in einem Land ist, desto grösser sind die Gesundheitsprobleme, das ist erwiesen. Es geht auch um Fragen, wie man kranke Menschen im Arbeitsprozess halten kann, damit sie nicht IV-Bezüger werden. All das sind Themen, die die Wirtschaft betreffen und wirklich an die Wurzel des Problems gehen.
«Mein Ansatz ist subsidiär, von unten her. Die Prävention muss dort ausgelöst werden, wo die Probleme sind.»
Fridolin Marty
Marty: Höhere Löhne vorzuschreiben, wäre kontraproduktiv, weil schlechter Qualifizierte gar nicht mehr angestellt würden, weil man sie sich nicht mehr leisten kann. Also gäbe es mehr Arbeitslosigkeit. Und die ist etwas vom Schlimmsten für die Gesundheit. Bei solchen Massnahmen bin ich skeptisch. Wichtig ist: Der Wirtschaft muss es gut gehen, der Wohlstand muss steigen, und dann geht es allen besser. Die Schere ist vielleicht weit offen, aber die untersten haben trotzdem vernünftige Einkommen und können sich die von den Präventionsexperten geforderten fünf Früchte am Tag leisten.
Was sind Ihre Hauptargumente pro oder kontra Präventionsgesetz?
Marty: Die Vorlage weist viele Probleme auf. Das grösste ist das Institut. Das wird ein Moloch, ein Elfenbeinturm, der nichts zur Lösung der Probleme der kleinen Leute beitragen wird. Zweitens ist das Gesetz um das Institut herum gebaut. Wenn man das Institut herausnimmt, bleibt nicht viel übrig. Das neue Gesetz deckt nur einen kleinen Teil der Prävention und der Gesundheitsförderung des Bundes ab. Mit der KVG-Abgabe und dem Tabakfonds wurden nur zwei Finanzierungsquellen der Prävention auf Bundesebene neu koordiniert. Der Rest bleibt vom Gesetz, das die Gesamtkoordination sicherstellen soll, unberührt.
Zybach: Wir brauchen ein Präventionsgesetz, weil der Staat zum gesundheitlichen Schutz seiner Bevölkerung verpflichtet ist. Zum ersten Mal haben wir die Chance, in der Schweiz die heute verzettelten Kräfte im Präventions- und Gesundheitsförderungsbereich unter einer nationalen Strategie einzubinden und viel wirksamer als bisher nachhaltige Programme zu lancieren. Damit können wir mit weniger Geld mehr erreichen, die Chancengleichheit erhöhen und damit einen Beitrag gegen die stetige Steigerung der immensen Gesundheitskosten leisten. Diese grosse Aufgabe kann nur der Bund übernehmen, keine Krankenkasse, keine Stiftung, kein Privatunternehmen!
Im Gespräch
Ursula Zybach ist Bereichsleiterin Präventionskampagnen bei der Krebsliga Schweiz und Präsidentin von Public Health Schweiz, dem nationalen Netzwerk für Public-Health-Fachleute. Sie ist Ausschussmitglied der Allianz «Gesunde Schweiz», die sich für eine Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung in der Schweiz und die Schaffung eines Präventionsgesetzes auf Bundesebene einsetzt.
Dr. Fridolin Marty ist Gesundheitsökonom und stellvertretender Leiter des Bereichs Allgemeine Wirtschaftspolitik und Bildung bei economiesuisse, dem grössten Dachverband der Schweizer Unternehmen.