Gesundheit im Kindesalter zahlt sich ein Leben lang aus
Prof. Lilly Shanahan von der Universität Zürich legt an der NCD-Stakeholderkonferenz 2021 dar, wie frühes psychisches und soziales Wohlergehen eine Grundlage für lebenslange Gesundheit darstellt. Handlungsbedarf sieht sie vor allem in Bezug auf psychische Probleme: Diese treten meist erstmals im Kindes- und Jugendalter auf. Daher sollten alle, die mit diesen Altersgruppen zu tun haben, auf ihrem Ausbildungsweg auch «mental health awareness und literacy» mit auf den Weg bekommen.
Was verstehen Sie unter «frühes psychisches und soziales Wohlergehen»?
Ich finde, die WHO hat dafür nützliche Definitionen entwickelt: psychische Gesundheit ist “mehr als nur das Fehlen von psychischen Störungen oder Behinderungen. Psychische Gesundheit ist ein Zustand des Wohlbefindens, in dem ein Individuum seine eigenen Fähigkeiten erkennt, mit den normalen Belastungen des Lebens fertig wird, produktiv arbeiten kann und einen Beitrag zu seiner Gemeinschaft leisten kann.“ Vieles von dieser Definition kann man auch schon auf das späte Kindes- und Jugendalter anwenden. Die Förderung der psychischen Gesundheit in diesen Entwicklungsphasen ist besonders wichtig, da sich lebenslange Verhaltensmuster und Gewohnheiten z.T. schon früh formieren. Wenn wir also schon früh Fertigkeiten und Gewohnheiten bilden, die die psychische Gesundheit fördern, dann können wir auch später im Leben auf diese zurückgreifen oder auf diese aufbauen.
Sie forschen, wie dieses Wohlergehen die Gesundheit im Erwachsenenalter beeinflusst. Was sind Ihre Haupterkenntnisse?
Das Auftreten psychischer Probleme in der Phase des Kindes- und Jugendalters ist normal. Es ist aber auch mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit verbunden, im Erwachsenenalter Probleme in verschiedenen Lebensbereichen zu erleben, z.B. andere gesundheitliche Störungen oder Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen. Psychische Probleme im Kindes- und Jugendalter erhöhen auch die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen nicht ihr volles Ausbildungspotenzial ausschöpfen können. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die psychischen Probleme chronisch werden. Mit anderen Worten: Wenn wir die psychischen Probleme von Kindern und Jugendlichen ignorieren, dann können sich diese und ihre Folgen langfristig auf die Zukunft des Kindes auswirken.
Wer kann das Wohlergehen der Kinder hauptsächlich beeinflussen?
Alle, die mit Kindern direkt oder indirekt interagieren. Das Wohlergehen von Kindern hat natürlich viel mit ihren allgemeinen Lebensumfeld zu tun, und somit auch mit dem Wohlergehen ihrer Eltern, mit positivem und konsistentem Elternverhalten usw. Aber auch andere Erwachsene spielen eine wichtige Rolle.
Zum Beispiel Lehrpersonen?
Ja, Lehr- und natürlich auch andere Betreuungspersonen verbringen an den Wochentagen sehr viel Zeit mit Kindern. Wenn diese Personen mit Kindern interagieren, ist eigentlich klar, dass sie nicht nur mit einer lernenden Person zu tun haben, sondern eben mit dem ganzen Kind und auch mit all den Einflüssen, die sich auf das Lernen und die Entwicklung des Kindes auswirken, wie z.B. seine körperliche und psychische Gesundheit. Lehrpersonen können positives Gesundheitsverhalten im psychischen Bereich fördern und Diskussionen über psychische Gesundheit normalisieren und entstigmatisieren. Dazu gehört u.a. auch die Benutzung und Einforderung der korrekten Begriffe im Bereich psychische Gesundheit und Krankheit.
Insgesamt brauchen Lehrpersonen für diese Aufgaben natürlich auch die dementsprechende Ausbildung und Unterstützung.
Insgesamt sehe ich von schulpolitischer Seite noch viele Möglichkeiten, z.B. Schulpersonal UND Kinder besser in sogenannter «mental health awareness» und «mental health literacy» – also Wissen und Kompetenz in Sachen psychische Gesundheit – auszubilden. So wie wir Lehrpläne für akademische Inhalte haben, könnte man auch solche für Themen entwickeln, die für die psychische Gesundheit relevant sind. Z.B. Kindern den Umgang mit Stress und schwierigen Situation vermitteln – das bedeutet natürlich auch den Umgang mit schwierigen sozialen Situationen in der Schule. Mobbing, Diskriminierung, oder Gewalt durch andere in der Schule sind ja z.B. auch Risikofaktoren, die zu psychischen Erkrankungen beitragen können.
Schulpersonal sowie Schülerinnen und Schüler sollten auch darin ausgebildet werden, wie man psychische Probleme bei sich selbst und anderen erkennt und darauf reagiert. Ingesamt könnten Lehrpersonen, wie ja übrigens auch Kinderärzt*innen, wichtige Beiträge zur Früherkennung von psychischen Problemen leisten. Wenn diese dann auch frühzeitig addressiert werden, könnte das für alle eine wichtige Möglichkeit sein, über mental health zu lernen, und längerfristigen Problemen vorzubeugen.
Was können staatliche Akteure beitragen?
Von staatlicher oder kantonaler Seite könnte man sicher daran arbeiten, das Stigma abzubauen, das im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen leider immer noch besteht. Dieses Stigma stellt viele Barrieren auf, wenn es z.B. darum geht, psychische Probleme zu erkennen und zu behandeln. Stigma vermindert somit die Fähigkeit unseres Gesundheitssystems, angemessen und verhältnismäßig zu reagieren. All das macht psychische Probleme meist eher noch schlimmer. Über die Tatsache, dass wir alle mal von psychischen Problemen betroffen sein könnten, sollte man offen sprechen. Wenn klar ist, dass wir eigentlich alle im selben Boot sitzen, wenn es um psychische Gesundheit geht, dann würde es hoffentlich auch weniger Stigma zu diesem Thema geben.
Man könnte insgesamt auch mehr dafür tun, Behandlungen durch Psychotherapeuten zu normalisieren und leicht zugänglich zu machen. Jugendliche z.B. haben in ihrem Alltag oft unglaublich wenig Zeit. Besonders für diese Altersgruppe wäre deshalb zukünftig vielleicht auch vermehrt die Möglichkeit zur tele-therapeutischen Behandlung durch Fachpersonen wichtig.
Wo sehen Sie in der Schweiz Handlungsbedarf?
Die Projektionen der WHO und anderer Organisationen besagen, dass die gesellschaftlichen Kosten, und natürlich auch die Gesundheitskosten, die durch psychische Probleme verursacht werden, in der Zukunft wohl eher noch ansteigen werden.
Deshalb wird mental health awareness und literacy in der Zukunft wohl noch wichtiger. In Schweizer Schulen lernen Kinder wichtige Grundsteine, die zu einer lebenslangen körperlichen Gesundheit beitragen sollen. Dazu gehören z.B. Sport treiben, sich gesund ernähren und ausreichend schlafen, was sich ja auch positiv auf die psychische Gesundheit auswirkt. Die Kinder lernen auch viel zu regelmässigem Zähneputzen in der Schule, und es gibt tolle Systeme für die Früherkennung von Problemen mit der Zahnhygiene und Karies. Meiner Meinung nach sollte es im Bereich sozioemotionaler und psychischer Gesundheit nicht anders sein – wichtige Grundsteine sollten früh gelegt werden und die Früherkennung und -behandlung von Problemen sollte auch in diesem Bereich mit demselben Elan betrieben werden. Dafür braucht es natürlich ausreichend und gut ausgebildetes Personal.
Wie beeinflusst Schulstress die Gesundheit der Jugendlichen?
as Bildungssystem in der Schweiz – wie wohl in allen westlichen Ländern – muss sich mit der Frage auseinandersetzen, ob Jugendliche nicht durch ihren Schulalltag überfordert werden. Das könnte wiederum zur Entwicklung psychischer Erkrankungen beitragen. Die WHO z.B. berichtete aktuell, wie gesundheitsschädigend es ist, wenn Menschen mehr als 55 Stunden pro Woche arbeiten müssen. Dieser Bericht bezieht sich zwar auf Erwachsene, aber wenn ich mir Schweizer Jugendliche anschaue, z.B. die, die entweder ans Gymnasium gehen möchten oder schon dort sind, dann habe ich den Eindruck, dass viele ab und zu diese (Arbeits-)Stundenzahl über längere Zeiträume hinweg überschreiten.
Insgesamt ist es aus entwicklungspsychologischer Sicht eher ungünstig, dass in manchen Kantonen ein Gymie-Test und danach eine Probezeit, die ja für viele Familien sehr stressige Situationen darstellen, mit der Phase der Pubertät der Jugendlichen kollidieren. Diese Entwicklungsphase ist für die Jugendlichen ohnehin eine große Herausforderung und wird durch solche Prüfungs- und Probezeitsituationen zusätzlich belastet. Das könnte psychische Probleme auslösen oder verschlimmern.
Welche Erkenntnisse haben Sie für den Bereich Sucht?
Handlungsbedarf gibt es auch beim Drogenmonitoring und der Drogenprävention. Unsere Längsschnitt-Studien in Zürich zeigen, dass Kinder und Jugendliche oft schon in einem sehr jungen Alter Nikotin, Alkohol und Cannabis konsumieren; später dann auch härtere Drogen. Das ist besorgniserregend, denn das Jugendalter ist eine wichtige Phase in der Gehirnentwicklung, in der sich Substanzkonsum z.T auch schädigender als in späteren Lebensphasen auswirken könnte. Und es werden in dieser Phase ja auch oft Grundsteine für lebenslange Gewohnheiten gelegt. Substanz- und Drogenkonsum in diesem Alter kann sich also insgesamt längerfristig schädigend auf die körperliche und psychische Gesundheit auswirken. Meiner Meinung nach gibt es in der Schweiz noch sehr viel Spielraum, Kinder und Jugendliche in diesem Bereich besser zu schützen.
Was ist die Hauptbotschaft, welche Sie Ihren Zuhörer*innen an der Stakeholderkonferenz mitgeben wollen?
Jede*r kann mal von psychischen Problemen betroffen sein, und über diese Tatsache sollte offen gesprochen werden.
Psychische Probleme treten meist erstmals im Kindes- und Jugendalter auf. Deshalb ist es wichtig, dass alle die mit diesen Altersgruppen zu tun haben, auf ihrem Ausbildungsweg auch mental health awareness und literacy für diese Altersgruppen erwerben. Es ist ausserdem zentral, dass Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen schnell und leicht zugängliche Hilfe durch Fachpersonen bekommen können.
Es gibt viele Strategien, die Kinder lernen können, um stressige und schwierige Situationen besser zu bewältigen. Und Schulen sollten bei der Vermittlung solcher Strategien mitwirken und insgesamt so strukturiert sein, dass sie nicht zu toxischem Stress im Jugendalter beitragen.
Um Kinder und Jugendliche adäquat zu unterstützen, braucht es natürlich ausreichend Ressourcen. Wichtig ist auch, die Forschung mit Kindern und Jugendlichen zu fördern, damit wir langfristig die besten evidenzbasierten Strategien für eine gesunde psychische und soziale Entwicklung identifizieren können.