Gesundheitscoaching im Tessin – das Pilotprojekt «Girasole»
Jan. 2017Prävention in der Gesundheitsversorgung
Girasole. Seit Oktober 2016 rekrutiert der Kanton Tessin die ersten Patientinnen und Patienten im Rahmen des Pilotprojekts «Girasole». Dieses Pilotprojekt, das vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) zwei Jahre lang unterstützt wird, soll die Risikofaktoren für nichtübertragbare Krankheiten bei erwachsenen Patientinnen und Patienten reduzieren, die ihren Hausarzt oder ihre Hausärztin aufsuchen. Bewegung gilt dabei als Schlüsselfaktor. Im Mittelpunkt dieser Intervention steht die motivierende Gesprächsführung. Das Pilotprojekt ist Teil der neuen Nationalen Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (NCD- Strategie), die vom Bundesrat im April 2016 verabschiedet wurde.
Hauptziel des Projekts «Girasole» ist, eine Verhaltensänderung bei Patientinnen und Patienten zu fördern, die Risikofaktoren (unausgewogene Ernährung, Rauchen, übermässiger Alkoholkonsum, Bewegungsmangel) für nichtübertragbare Krankheiten aufweisen, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf dem Bewegungsmangel liegt. Aus den Ergebnissen der Schweizer Gesundheitsbefragung (SGB) von 2012 geht nämlich hervor, dass sich die erwachsene Tessiner Bevölkerung weniger körperlich betätigt als der Schweizer Durchschnitt (60,8 % gegenüber 72,5 %). Der Kanton Tessin beschloss gemeinsam mit dem BAG, die Hausarztpraxen als Orte zu fördern, die sich besonders dazu eignen, die Tessiner Patientinnen und Patienten dazu zu ermutigen, sich mehr zu bewegen und gesundheitsfördernde Verhaltensweisen anzunehmen.
Lehrgang im Dienste der Arzt-Patient-Beziehung
Die Motivation der Patientinnen und Patienten ist in diesem Zusammenhang ein entscheidender Faktor. Das Pilotprojekt «Girasole» stellte daher auf der Erfahrung und Unterstützung der bestehenden Programme Gesundheitscoaching Gesundheitscoaching im Tessin – das Pilotprojekt «Girasole» des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM) und PAPRICA1 (Physical Activity Promotion in Primary Care) ab. Diese beiden Programme, die auf der motivierenden Gesprächsführung beruhen, wurden kombiniert und an den Tessiner Kontext angepasst. Auf diese Weise kann den Ärztinnen und Ärzten ein einzigartiger Lehrgang angeboten werden, der ihnen das nötige Rüstzeug vermittelt, um eine Verhaltensänderung ihrer Patientinnen und Patienten zu fördern, insbesondere in Bezug auf die Bewegung. Ein Repertoire aller Bewegungsangebote im Kanton Tessin wurde zu diesem Zweck ebenfalls erstellt und steht nun den Ärztinnen und Ärzten sowie den Patientinnen und Patienten zur Verfügung. Das Gesundheitscoaching dient als Katalysator zur Einleitung von Präventionsmassnahmen gegen alle Risikofaktoren für NCD. Deshalb bildet es den Mittelpunkt des blumenförmigen Grundmodells «Girasole» (ital. für Sonnenblume), aus dem sich auch der Name des Projekts ableitet. PAPRICA wird als ein Blütenblatt der Sonnenblume dargestellt, das die Bewegungsförderung in Arztpraxen ermöglicht.
Die Neuverteilung der Rollen in der Arzt- Patient-Beziehung ist einer der grundlegenden Aspekte des Pilotprojekts «Girasole ». Die Patientinnen und Patienten werden zu den Hauptakteurinnen und -akteuren ihres Gesundheitsmanagements, während der Arzt oder die Ärztin sie führt und begleitet und damit gewissermassen als Coach auftritt. Gemeinsam definieren sie das am besten auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse des Patienten oder der Patientin zugeschnittene Vorgehen sowie die Ziele, die kurz- und mittelfristig erreicht werden sollen. Die beiden im Rahmen des Gesundheitscoachings genutzten Interventionsansätze, die motivierende Gesprächsführung und die gemeinsame Entscheidungsfindung, können die Qualität des Austausches mit den Patientinnen und Patienten verbessern. Studien zu diesem Thema haben gezeigt, dass die Patientinnen und Patienten eher geneigt sind, bei einem Projekt mitzumachen, wenn der Arzt oder die Ärztin sie coacht, als wenn ihnen einfach etwas verschrieben wird. Das im Rahmen dieses Pilotprojekts vermittelte Know-how soll einerseits die Rolle und die Kompetenzen der Hausärztinnen und Hausärzte aufwerten, weil sie damit besser in der Lage sind, ihre Patientinnen und Patienten, die eine gesündere Lebensweise annehmen möchten, zu motivieren, zu begleiten und zu bestärken. Andererseits sollen die Kenntnisse, Kompetenzen und Ressourcen der Patientinnen und Patienten für ein besseres Selbstmanagement ihrer Gesundheit verstärkt werden.
Nachdem die Stelle für Gesundheitsförderung und -evaluation (SPVS) des Kantons Tessin zusammen mit den Verantwortlichen von Gesundheitscoaching und PAPRICA sowie mit einer Gruppe von Tessiner Hausärzten das Fortbildungsprogramm entwickelt hatte, führte sie am 15. und 16. September 2016 einen ersten Lehrgang für die 19 Tessiner Hausärztinnen und Hausärzte durch, die bereit waren, bei dem Projekt mitzuwirken. Die ersten Patientinnen und Patienten wurden Anfang Oktober 2016 rekrutiert.
Projektevaluation
Eine Evaluation des Pilotprojekts wird zwischen 2016 und 2018 durch die Interface Politikstudien Forschung Beratung in Luzern in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule der italienischen Schweiz (SUPSI) in Lugano vorgenommen. Die Resultate der Evaluation sollen unter anderem: – Erkenntnisse zur Methodologie der Interventionen, zur Fortbildung der Ärzte, zu deren Zufriedenheit und zu derjenigen der Patientinnen und Patienten (qualitativ), – Zahlen zur Begleitung der Patientinnen und Patienten und zur Wirkung auf die Verhaltensänderung (quantitativ) sowie – eine Analyse der Interventionskosten (ökonomisch) liefern. Ziel ist, dass mindestens 15 der 19 am Projekt beteiligten Hausärzte und Hausärztinnen je rund 20 Patientinnen und Patienten während sechs Monaten begleiten. Die Datenerhebung umfasst je zwei schriftliche Befragungen bei Hausärzten und bei beteiligten Patientinnen und Patienten. Auch die von Hausärzten ausgefüllten Patientenlisten sowie die im Rahmen des Coachings verwendeten Arbeitsblätter werden gezielt ausgewertet. Ein erster Teilbericht zur Evaluation wird im 2. Quartal 2018 erwartet.
1 Das Programm PAPRICA hat eine Trägerschaft bestehend aus der Policlinique Médical Universitaire in Lausanne, dem Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich, dem KHM, dem Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Lausanne, der Schweizerischen Gesellschaft für Sportmedizin und den Gesundheitsligen. Die Geschäftsstelle ist heute dem KHM angegliedert.
Kontakt
Antoine Bonvin
Sektion Prävention in der
Gesundheitsversorgung
antoine.bonvin@bag.admin.ch