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Gesundheitswesen und Sozialwesen stärker verbinden

Ausgabe Nr. 137
Jun. 2023
Gesundheit und Soziales: Schnittstellen stärken

Das BAG setzt sich dafür ein, mehr Brücken zwischen den Bereichen Gesundheit und Soziales zu schaffen und so die ganzheitliche Gesundheitsförderung, die Prävention und die Versorgung zu stärken.

Körper, Psyche und Soziales – alle haben einen Einfluss auf unsere Gesundheit und sind untereinander verbunden. Der Mensch ist mehr als eine komplexe biologische Maschine, er ist ein soziales Wesen, eingebettet in ein Netz: in der Familie, bei Freunden; in der Schule, am Arbeitsplatz, im Verein. Ein gutes Netz stützt die Gesundheit. 

Eine Literaturübersicht der Universität Fribourg zeigt zum Beispiel, welchen Einfluss materielle Faktoren wie Arbeitsbedingungen und psychosoziale Risikofaktoren wie Stress oder soziale Isolation (Einsamkeit) auf die Entstehung von Krankheiten haben: Stress erhöht das Risiko für die Entstehung von Krebserkrankungen um 47 Prozent und für psychische Störungen gar um 85 Prozent. Soziale Isolation erhöht das Risiko für die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 26 Prozent oder von Demenz um 27 Prozent. Stress und soziale Isolation können auch einen Einfluss haben auf den risikoreichen Konsum von Alkohol und Tabak. 

Umgekehrt können diese psychosozialen Faktoren auch positiv wirken: Gemäss Literaturübersicht vermindert soziale Integration das Risiko für die Entstehung von muskuloskelettalen Erkrankungen oder Demenz.  Andere Studien zeigen, dass ein Grossteil der Sozialhilfebeziehenden in der Schweiz unter chronischen Erkrankungen, psychischen Beschwerden und tiefer Lebensqualität leidet. Armut und Gesundheit hängen zusammen.

Soziale Unterstützung verbessert Lebenserwartung

Insgesamt ist es daher nicht überraschend, dass sozial isolierte Personen ein zwei- bis fünfmal so hohes Risiko haben, frühzeitig zu sterben (Quelle: Obsan Dossier 27). Eine Fülle von Studien belegt, dass soziale Unterstützung einen erheblichen positiven Einfluss auf die Lebenserwartung hat. Basis dieser ganzheitlichen Betrachtung bildet das sogenannte biopsychosoziale Modell, das Körper (bio), Psyche (psycho) und soziales Umfeld kombiniert. 

Ein typisches Beispiel ist die ältere Frau, die in ihrer Küche stürzt und im Spital operiert werden muss. Sie möchte so schnell wie möglich wieder nach Hause. Die Angehörigen sind jedoch am Anschlag mit der Betreuung, untereinander zerstritten, und fragen sich, ob sie die Belastung noch stemmen können. Es braucht nun den Aufbau eines neuen Settings, in das alle involviert sind: Patientin, Angehörige, Arzt, Pflege etc. Der Spitalaustritt muss gut geplant und ein unterstützendes Umfeld erhalten und geschaffen werden. Was ist die optimale Lösung? Für die Pa­tientin, für die Angehörigen? 

In solchen Fällen können Gesundheitswesen und Sozialwesen wie abgetrennte Silos wirken. Gesundheitsfachpersonen auf der einen Seite – Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter auf der anderen. Krankenversicherung und Unfallversicherung auf der einen Seite – Invalidenversicherung, Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe usw. auf der anderen. Es bestehen getrennte Finanzierungssysteme, Fragmentierungen, die nicht mehr zeitgemäss sind, und kaum aufeinander abgestimmte gesetzliche Bestimmungen. 

«Es geht um Therapien und Angebote, die gut ineinandergreifen, und um Netzwerke, die komplementär und aufeinander abgestimmt sind.»

Komplementäre Netzwerke und Koordination

«Es geht darum, diese Silos aufzubrechen, indem wir mehr und stärkere Brücken bauen zwischen den Bereichen», so Simona De Berardinis, Leiterin Nationale Strategie Sucht beim BAG. «Es geht um Therapien und Angebote, die gut ineinandergreifen, und um Netzwerke, die komplementär und aufeinander abgestimmt sind.» Wichtig ist, dass Fachleute auch gewisse Kenntnisse über Funktionsweise und Angebote des jeweils anderen Teilbereichs haben und die Koordination suchen. Oft geht es auch darum, eine gemeinsame Sprache zu finden aufgrund unterschiedlicher Fachjargons und Denkmuster. 

Marianne Jossen, Leiterin Nationale Strategie nichtübertragbare Krankheiten beim BAG, ergänzt: «Diese Brücken sind auch in Bezug auf die Zusammenarbeit unter den Ämtern wichtig, konkret zwischen dem BAG und dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), denn eine ganzheitliche Gesundheitsförderung kann nur mit einer sektor­übergreifenden und interprofessionellen Zusammenarbeit gelingen.» Grundlage für diese Arbeiten ist zum Beispiel «Gesundheit 2030», die gesundheits­politische Strategie des Bundesrates, welche unter anderem die verstärkte koordinierte Versorgung als Ziel definiert.

Wer besonders gefährdet ist

Es ist wichtig zu betonen, dass Gesundheits- und Sozialwesen in der Schweiz gut funktionieren. Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung ist sozial gut integriert und erhält im Bedarfsfall wirksame medizinische und soziale Unterstützung. Allerdings gibt es bestimmte Bevölkerungsgruppen, die besonders gefährdet sind, sozial isoliert, stigmatisiert, diskriminiert und zu wenig unterstützt zu werden. Dazu gehören zum Beispiel:

  • ältere Personen
  • Personen mit tiefer Schulbildung und geringen finanziellen Mitteln
  • Migrantinnen und Migranten mit tiefem sozioökonomischem Status und/oder wenig Kenntnissen der Ortssprache
  • Alleinerziehende
  • Personen mit einer psychischen Erkrankung
  • Personen mit einer Suchterkrankung

Was die Akteure unternehmen

Das BAG hat – immer mit dem biopsychosozialen Modell als Referenz – verschiedene Massnahmen ins Leben gerufen, um die Situation zu verbessern, etwa die Förderung der interprofessionellen Zusammenarbeit in der Gesundheitsversorgung oder die Integration des F+F-Ansatzes (Früherkennung und Frühintervention, siehe Artikel Seite 9). Zudem untersuchte eine Studie im Auftrag des BAG die Erfolgsbedingungen bei der Etablierung interprofessioneller Zusammenarbeit an der Schnittstelle zwischen Gesundheitswesen und Sozialhilfe (siehe Links).

Weitere Massnahmen umfassen Arbeiten rund um die gesundheitliche Vorausplanung, die Plattformen Palliative Care und Demenz, die Vernetzung der Akteure und das Teilen von Wissen, etwa in Form von Veranstaltungen wie der diesjährigen Stakeholderkonferenz oder in Form von Runden Tischen, an denen sich Fachleute zu psychosozialen Determinanten der Gesundheit austauschen. 

Zudem erarbeitet das BAG Grundlagen und begleitet Forschungsprojekte. Etwa das Projekt «Sozialberatung direkt in der Arztpraxis»: Patientinnen und Patienten werden in der Arztpraxis durch eine professionelle Sozialberatung im Umgang mit ihren oft chronischen Krankheiten unterstützt, erhalten niederschwellige Beratung in sozialen, finanziellen und rechtlichen Fragen und werden bei Bedarf an geeignete Stellen weitergeleitet. Dank Früherkennung, besserer Koordination zwischen Gesundheits- und Sozialwesen und Case Management verbessert sich die Qualität der Versorgung (siehe Artikel Seite 6). 

Ein anderes Beispiel, in dem das biopsychosoziale Modell eine Rolle spielt, ist der Ansatz der «caring communities». Die Stadt Bern etwa verfolgt diesen Ansatz in ihrer Altersstrategie 2030. Eine «caring community» ist eine Gemeinschaft, in der Menschen füreinander sorgen und sich gegenseitig unterstützen. Damit unterstützt die Stadt gesundes Altern in gewohnter Umgebung und stärkt die Eigenständigkeit, die soziale Teilhabe und die Lebensqualität (weitere Projekte und Praxisbeispiele gibt es auf bag-blueprint.ch).

«Eine besondere Herausforderung ist die Unterstützung von Menschen mit Demenz, Menschen mit Mehrfacherkrankungen sowie Menschen am Lebensende. Hier ist der soziale Aspekt sehr wichtig», so Flurina Näf, Co-Leiterin Koordinationsstelle Plattform Palliative Care beim BAG. 

Fokus auf Schlüsselereignisse

Das BAG fokussiert bei der Umsetzung auf bestimmte Schlüsselereignisse. Ereignisse im Leben, die Ressourcen aktivieren können: der Übergang von der Schule in die Ausbildung, der Tod eines nahen Menschen, Schwangerschaft und Geburt, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Scheidung, Trennung, Lebensende etc. Denn gerade bei diesen Schlüsselereignissen kann ein guter Austausch zwischen Gesundheitswesen und Sozialwesen entscheidend sein. 

Links

Kontakt

Simona De Berardinis und Ma­rianne Jossen,
Sektion Präven­tionsstrategien,
,
 

Flurina Näf,
Sektion Nationale Gesundheitspolitik, 
         

Isabelle Villard Risse und Karin Gasser,
Sektion Gesundheitliche Chancengleichheit,
,

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