Kliniken gleichen schweizweit Daten ab: sichere Dosierung für Kinder-Medikamente
Die Dosierung von Medikamenten bei Kindern ist schwierig. Es gibt häufig keine klinischen Studien, die eine sichere und wirksame Dosierung von Medikamenten bei Kindern vorschreiben würden. Bis jetzt griffen Kinderärztinnen und Kinderärzte auf unterschiedliche pädiatrische Quellen zurück, ohne dass es eine Einheitlichkeit gab. Die Dosierungen von dem pädiatrischen Medikamenten wurden nun unter acht Schweizer Kliniken abgeglichen und in einer nationalen Datenbank vereinheitlicht. Dies mit Hilfe des Vereins SwissPedDose.
Über 460 Dosierungsempfehlungen zu den 130 häufigsten Wirkstoffen sind derzeit auf der nationalen Datenbank für Dosierungsempfehlungen für Arzneimittel bei Kindern aufgelistet. «Das ist ein phänomenaler Erfolg», freut sich Klara Posfay-Barbe, Chefärztin der Abteilung für allgemeine Pädiatrie beim Kinderkrankenhaus in Genf und Vorstandsmitglied des Vereins SwissPedDose.
Der Verein erhielt vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) den Auftrag, eine nationale Datenbank zu erstellen, um die Sicherheit und Anwendung von Arzneimitteln bei Kindern und Neugeborenen zu verbessern. Gesetzliche Grundlage für diesen Auftrag war das revidierte Heilmittelgesetz, das im Januar 2018 in Kraft trat.
Der Verein SwissPedDose besteht aus acht Kinderkliniken (Aarau, Basel, Bern, Genf, Lausanne, Luzern, St. Gallen, Zürich), der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) und dem Schweizerischen Verein für Amts- und Spitalapotheker (GSASA) und wird durch den Bund finanziert.
Harmonisierungs-Prozess
Wie werden die Dosierungsempfehlungen harmonisiert? Die Spitalapothekerinnen und Spitalapotheker der einzelnen Kinderkliniken senden ihre interne Dosierungsempfehlung den Fachpersonen von SwissPedDose zu. Diese Daten werden mit einer systematischen Literaturrecherche abgeglichen und als Dosierungsvorschlag den Ärztinnen und Ärzten aus den jeweiligen Fachgebieten vorgelegt. Die sogenannten Harmonisierungsexpertinnen und -experten debattieren auf einer eigens dafür geschaffenen interaktiven Plattform über den Vorschlag, bis ein Konsens gefunden wird (siehe Abbildung unten).
Im Expertenteam dabei ist auch Matteo Fontana, leitender Kinderarzt im Kantonsspital Luzern: «Anfangs war es schwierig, weil man sich nicht kannte und fast nicht getraut hat, eine Rückmeldung zu geben, wenn man mit einer Dosierung nicht einverstanden war. Aber mit der Zeit sind wir als Expertinnen und Experten zu einem Team zusammengewachsen, das ein gemeinsames Ziel verfolgt.» Mit Stolz fügt Matteo Fontana an: «Dieses Ziel ist mit der Datenveröffentlichung auf der Plattform für alle sichtbar geworden, und das ist richtig schön».
Für eine optimale Medikamenten-Dosierung bei Kindern: So funktioniert der Harmonisierungsprozess
Ein ehrgeiziges und zeitintensives Projekt
Auch Klara Posfay-Barbe zieht eine positive Bilanz der ersten Betriebsphase (2018 – 2021) der nationalen Harmonisierungsplattform SwissPedDose: «Es war ein äusserst ehrgeiziges Projekt, das Vorarbeit, technische Arbeit und eine grosse Investition der Experten erforderte, die bereits anderweitig stark belastet waren. Worauf ich besonders stolz bin, ist die Anzahl der Medikamente, für die ein Konsens gefunden wurde und die nun für die gesamte Schweiz zugänglich sind.»
Abgabe von Medikamenten für Kinder sicherer und wirksamer
Im Kantonsspital Luzern kommen die Angestellten tagtäglich mit den 460 Dosierungsempfehlungen von SwissPedDose in Kontakt. Sie gleichen die eigene, spitalinterne Datenbank laufend mit den neuen Empfehlungen ab, wie Matteo Fontana erklärt: «Die abgeglichene Dosierungsempfehlung macht unsere Arbeit sicherer – und zwar in beide Richtungen. Einerseits, damit man nicht zu viel eines Medikamentes verabreicht oder zu häufig, und andererseits, damit man auch genug davon gibt. Vor allem im Kompendium gibt es gewisse Dosierungen, beispielsweise Antibiotika, die viel tiefer dosiert sind, weil es für ein Kind zwischen 20 und 39 Kilo eine Pauschalangabe gibt. Wir bewegen uns bei Kindern aber bei gewissen Medikamenten im Milligramm-Bereich, was je nach Gewicht des Kindes eine doppelte Dosierung zur Folge haben kann». Das Arzneimittel-Kompendium ist ein Arzneimittelverzeichnis, welches die offiziellen Informationen für Medikamente des Schweizer Marktes enthält.
Nicht nur bei eigenen Unsicherheiten, sondern auch bei Verordnungen von Arbeitskolleginnen und -kollegen schlägt Matteo Fontana manchmal in der nationalen Datenbank die Dosierungsempfehlungen nach: «Ich nutze die Daten auch im Sinne einer Qualitätskontrolle. So können wir uns gegenseitig Rückmeldungen geben und uns stetig verbessern.»
Die richtige Dosierung: eine komplexe Aufgabe
Das Berechnen von Dosierungen bei Kindern ist eine komplexe Aufgabe. Hier geschehen die meisten Fehler in der Kindermedizin. Gründe für Medikationsfehler sind neben schwieriger Applikation bei Kindern am häufigsten fehlende Informationen für die korrekte Dosierung. Solche Daten können abschliessend eigentlich nur in klinischen Studien gewonnen werden. Klinische Studien über Arzneimitteltherapien bei Kindern durchzuführen ist aus ethischer und medizinischer Sicht jedoch nicht ganz einfach. Die Daten zu den Dosierungen sind daher oft lückenhaft oder fehlen gänzlich. Für den Alltag der Kinderärztinnen und Kinderärzte bedeutet das: Es werden häufig Arzneimittel bei Kindern verwendet, die eigentlich nur für Erwachsene («off-label use») oder (noch) gar nicht zugelassen sind («unlicensed use»).
Seit 2013 ist der Bund deshalb daran, dieses Problem zu beheben. Im Rahmen eines Pilotprojekts wurden die ersten 100 Dosierungsempfehlungen national harmonisiert. Diese Aufgabe führt der eigens dafür gegründete Verein SwissPedDose im Auftrag des Bundes nun weiter.
«Die Datenbank gibt uns Spielraum»
Eine Verordnung bleibe immer eine Verordnung, sagt Matteo Fontana, man könne sie nicht einfach blind erteilen, sondern es brauche immer eine Überprüfung – trotz der nationalen Datenbank. Starke Anpassungen der Dosierungsempfehlungen, die das Kantonsspital Luzern bis jetzt verwendet habe, gab es keine. Aber es gebe individuellen Spielraum, oder eine Warnung: «Ein Kardiologe gab die Empfehlung einer gewöhnlichen Dosis Betablocker, die er seit Jahrzehnten so empfiehlt. Aber das Kind zeigte weiter Herzrhythmusstörungen. Wir schauten in der nationalen Datenbank von SwissPedDose nach und stellten fest: Die harmonisierte Dosierungsempfehlung war bis zu doppelt so hoch! Wir verabreichten den Betablocker also in einer höheren Menge und die Herzrhythmus-Störungen verschwanden und das Kind durfte nach Hause.»
Bekanntheitsgrad unter den Kinderärzten
Eine Umfrage unter Kinderärztinnen und Kinderärzten sowie dem Schweizerischen Apothekenverband pharmaSuisse im Oktober 2021 ergab: Schweizweit kennen 78 Prozent der Befragten die Datenbank von SwissPedDose und 50 Prozent nutzen sie auch. SwissPedDose-Vorstandsmitglied Klara Posfay-Barbe: «Ich bin von den Ergebnissen der Umfrage nicht überrascht, allerdings hoffe ich, dass es in einem Jahr noch höher sein wird, mit hoffentlich 100 Prozent der Kinderarzt-Praxen und Apotheken, die über SwissPedDose Bescheid wissen, und einem Mehrheitsanteil, der es zur Überprüfung der Dosierungen verwendet.»
Daten-Integration in Krankenhäusern: Eine «Herausforderung»
Damit die Mehrheit der Zielgruppe in Spitälern und anderen Einrichtungen die harmonisierten Daten nutzt, bräuchte es einen Abgleich oder eine Verknüpfungsmöglichkeit zu deren internen Systemen, so wie das Kantonsspital Luzern das macht. Doch das ist bei weitem nicht der Standard. In den grossen Spitalzentren gebe es aber deutliche Fortschritte, sagt Klara Posfay-Barbe. Eine weitere Herausforderung beim Ausbau der nationalen Datenbank zur Dosierung bei Arzneimitteln bei Kindern ist: «Am Schwierigsten sind nach wie vor die Medikamente, bei denen es nur wenige Daten für das Kind gibt und wir uns entscheiden müssen: Entweder nicht harmonisieren, weil eine sichere Verschreibung eigentlich unmöglich ist. Oder sich auf die bestmöglichen Evidenzen beziehen, um unsere Kinder in der bestmöglichen Dosierung zu behandeln.»
Die nächsten Schritte und Zukunftswünsche
Die Verantwortlichen von SwissPedDose entscheiden unter Mitwirkung des BAG bei einem jährlichen Austausch, welche Medikamente als nächstes angeschaut werden. «Wahrscheinlich werden vermehrt auch krankenhauszentrierte Medikamente hinzukommen, beispielsweise für die Intensivpflege», sinniert die Chefärztin der Abteilung für allgemeine Pädiatrie beim Kinderkrankenhaus in Genf.
Nicht nur weitere Medikamente, sondern auch eine Erweiterung der Indikationen wünscht sich Matteo Fontana vom Kantonsspital Luzern. Ein Beispiel wäre die Dauer der Therapie: «Beim Einsatz von Antibiotika ist eine Hautinfektion vielleicht innerhalb von 7 bis 10 Tagen behandelbar, aber eine Knochenentzündung geht – mit einem ähnlichen Antibiotikum – vielleicht erst in drei bis vier Wochen weg.» Hier brauche es je nach Indikation unterschiedliche Dosierungen.
Die Grundproblematik, die fehlende Datengrundlage zur Dosierung bei Kindern, bleibt aber trotz nationalem Datenabgleich bestehen. Darum erhofft sich Vorstandsmitglied Klara Posfay-Barbe, mit der Arbeit von SwissPedDose im Bereich Forschung etwas auslösen zu können, damit in naher Zukunft qualitativ hochwertige Studien durchgeführt werden, um das wirksamste und sicherste Arzneimittel in allen Altersgruppen der Pädiatrie zu finden.