«Alkoholkonsum wird oft als Entschuldigung für häusliche Gewalt herangezogen» – Interview mit Anna Tanner
An der Stakeholderkonferenz Sucht zum Thema «Sucht und soziales Umfeld» bringt Sozialarbeiterin Anna Tanner die Perspektive aus dem Frauenhausalltag ein. Viele Opfer von häuslicher Gewalt berichten über Suchtmittelkonsum in der Beziehung. Im Interview spricht Anna Tanner über ihre Erfahrungen bei der Opferberatung. Sie plädiert für neue niederschwellige Angebote und eine verstärkte Prävention häuslicher Gewalt.
Frau Tanner, Sie arbeiten für das Frauenhaus Bern – eine vom Kanton anerkannte stationäre Opferhilfeberatungsstelle.
Das Frauenhaus bietet einen sicheren Ort für Frauen und Kinder, die von Gewalt betroffen sind. Es ist ein stationäres Angebot an einem sicheren Ort. Alle Frauen, die zu uns kommen, haben eine Geschichte mit häuslicher Gewalt – das ist eine Bedingung, damit sie überhaupt zu uns kommen können.
Wie kommen die Frauen zu Ihnen?
Das ist sehr unterschiedlich. Alle Frauenhäuser des Kantons Bern betreiben gemeinsam die Hotline AppElle!. Dort können sich betroffene Frauen melden, aber auch andere, die von Gewaltereignissen Kenntnisse haben: Nachbarinnen und Nachbarn, Bekannte, Freundinnen und Freunde, Familienmitglieder... Auch für Fachstellen, die eine Beratung benötigen, ist AppElle! eine Anlaufstelle. Dazu gehören beispielsweise Spitäler, Ärztinnen und Ärzte, Anwältinnen und Anwälte. Entschliesst sich eine schutzbedürftige Frau aus eigenem Willen, dass sie von zuhause weggehen will, kommt sie zu uns. Dies erfolgt auf sehr unterschiedliche Weise: Entweder, die Frau wird von der Polizei gebracht, kommt mit dem Taxi oder wir treffen sie irgendwo – unser Standort ist ja anonym. Es ist sehr wichtig, dass dieser anonym bleibt – deshalb machen wir einen Treffpunkt ab.
Ungefähr die Hälfte der von Gewalt betroffenen Frauen berichtet von einem problematischen Alkoholkonsum in der Beziehung. Dabei ist es mehrheitlich der Mann, der trinkt. Decken sich diese Zahlen mit Ihren Erfahrungen?
Ja, sehr viele Frauen berichten von einem Alkoholkonsum, der problematisch ist. Zum Beispiel, dass der Mann regelmässig Alkohol getrunken hat und danach aggressiv geworden ist.
Aber Alkohol trinken führt nicht per se zu Gewalt?
Es ist viel komplexer. Es gibt in der mir bekannten Literatur keinen haltbaren wissenschaftlich kausalen Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Gewaltanwendung. Und nicht in jedem Fall ist es nur der Mann, der konsumiert. Oft ist eine multifaktorielle Problematik vorhanden – im Umfeld und in der komplexen Beziehung zwischen Täter und Opfer. Alkohol und Drogen sind sehr oft Teil der Problematik. Deshalb macht es Sinn, diese Problematik zusammen aufzunehmen und zu thematisieren. Und es stellt sich die Frage: Was war zuerst? Es kann sein, dass als Folge einer Gewalterfahrung zu Alkohol- oder Drogen gegriffen wurde. War also erst der Alkohol oder die Gewalt vorhanden?
Wir hatten auch schon Fälle, in welchen die Frau gezwungen wurde, Alkohol oder andere Substanzen zu konsumieren. Solche Fälle interpretiere ich als Machtausübung. Es kann hier auch um ein Zugänglichmachen einer Person gehen, damit eine Person beispielsweise gefügig ist für sexuelle Handlungen. In diesem Zusammenhang ist auch die Anwendung von K.O.-Tropfen ein Aspekt von Gewalt und Suchtmittel – das passiert allerdings eher im öffentlichen Raum und ist weniger Teil von häuslicher Gewalt.
Oftmals wird die Schuld für häusliche Gewalt beim Alkohol gesucht.
Der Alkoholkonsum wird oft als Entschuldigung herangezogen. Sprich, dass die Frau sich einredet: ‘Er wäre nicht so, er ist nur wegen seines Alkoholkonsum ausgerastet. Wenn er nicht mehr trinken würde, wäre alles wieder gut’. Vielfach ist das aber nicht so. Verschwindet die Alkoholproblematik, bedeutet das noch lange nicht, dass auch das Gewaltproblem verschwindet. Es sind zwei Problemfelder, die wir ganz klar zusammen denken, aber separat behandeln müssen.
Klappt das in der Regel?
Oft sind gar nicht beide Probleme bekannt. Eine Person bei der Opferberatungsstelle spricht beispielsweise von Gewalt, ohne den Suchtmittelkonsum zu thematisieren. Oder eine Person in der Suchtberatung spricht nicht über ihre Gewaltproblematik. Sowohl Sucht als auch Gewalterfahrung sind mit Scham verbunden – es ist für Betroffene deshalb oft schwierig, darüber zu sprechen. Beide Situationen haben eine Isolation zur Folge, eine Abschottung des sozialen Umfeldes. Und es hat viel mit Selbstwert zu tun: Personen, die von Beidem betroffen sind, haben oft einen tiefen Selbstwert. Dazu kommt sowohl bei Sucht als auch bei Gewalt die Angst vor Konsequenzen, beispielweise, dass die Kinder fremdplatziert werden könnten. Wird ein Problem ohne Wissen des anderen Problems behandelt, können gemeinsame Ursachen vielleicht gar nicht behandelt werden.
Es ist also wichtig, dass behandelnde Personen beide Themen ansprechen?
Fachpersonen sollten beides erkennen und verstehen können. Und die Anamnese sollte so ausgerichtet sein, dass beide Themen zur Sprache kommen. Für uns von der Opferhilfe heisst das, dass wir auch auf allfällige Drogen- und Suchtmittelproblematiken eingehen. Umgekehrt wäre es natürlich auch ideal, wenn die Suchtmittelberatung allfällige Gewaltanwendungen thematisieren würde. Natürlich ist es im Berufsalltag eine Herausforderung, auch an andere Problemfelder zu denken und diese zu berücksichtigen.
Bieten Sie eine spezielle Beratung oder Behandlung zu Sucht an?
Nein, aber wir arbeiten mit anderen Stellen zusammen – mit dem Contact, der Berner Gesundheit und mit dem Blauen Kreuz. Mit ihnen pflegen wir einen regelmässigen Fachaustausch. Wenn wir merken, dass eine Frau bei uns eine Suchtmittelproblematik aufweist, übernehmen unsere Partner die Beratung.
Kommt es auch vor, dass Ihnen Frauen aus der Suchtberatung vermittelt werden?
Ja, das kommt auch vor. Ein Beispiel ist der La Strada-Bus – ein niederschwelliges Angebot für suchtmittelgefährdete Sexarbeiterinnen. Berichten solche Frauen von problematischen Beziehungen, geht es oft auch um Abhängigkeitsbeziehungen wegen illegalen Substanzen. Das heisst, eine Frau wird von ihrem Freund oder ihrem Zuhälter abhängig gemacht, weil sie den Stoff von ihm bezieht. Dadurch ist der Nährboden für Gewalt sehr stark. Wir haben in diesen Fällen eine gute Zusammenarbeit mit dem Angebot von La Strada.
Warum spielt Alkohol bei häuslicher Gewalt eher eine Rolle als andere Substanzen?
Alkoholkonsum ist sehr verbreitet und gesellschaftlich akzeptiert. Zu Alkohol kommt man schnell, er ist ein gesellschaftliches Phänomen – überall konsumierbar, überall zugänglich. Das ist sicher mit ein Grund, warum Alkohol bei Gewaltanwendung häufiger Thema ist als andere Substanzen. Eine Rolle spielt sicher auch die enthemmende Wirkung von Alkohol – Gewalt wird vielleicht eher ein Thema, als wenn eine Person unter dem Einfluss einer anderen Substanz steht. Der gleichzeitige Konsum von mehreren Substanzen wie beispielsweise Alkohol und Kokain, kann noch verheerender sein.
Welche Rolle spielt Alkohol bei der sogenannten Gewaltspirale?
Angenommen ein Paar hat einen Grundkonflikt, der irgendwann explodiert und in einer Gewaltanwendung mündet. Hat sich die Situation entladen, zeigt der Täter Reue und gelobt Besserung. Das Paar verbringt wieder eine gute Zeit, jedoch ohne dass der Grundkonflikt gelöst ist. Irgendwann explodiert der Grundkonflikt erneut. Wenn in dieser Konstellation Alkoholkonsum dazu kommt, wird diese Spirale heftiger – auch weil der Alkoholkonsum als Entschuldigung für die Gewaltanwendung genutzt wird. So hat das Opfer mehr Mühe, aus der Gewaltspirale herauszukommen. Es kommt in immer kürzeren Abständen zu Gewaltanwendung.
Zu häuslicher Gewalt gehören verschiedene Formen, neben der physischen spielt im Frauenhaus auch die psychische Gewalt eine Rolle.
Zur psychischen Gewalt gehören verschiedene Aspekte. Zum Beispiel die emotionale Gewalt. Hier entstehen soziale Abhängigkeiten. Oder die Frauen werden in einem Mass beleidigt oder gedemütigt, dass es für sie traumatisch wird und den Selbstwert beeinflusst. Manchmal isoliert der Mann die Frau zuhause, ohne dass sie die Möglichkeit hat, sich mit anderen auszutauschen oder Freundinnen und Freunde zu treffen. Eine andere Form ist die ökonomische Abhängigkeit. Der Mann behält alles Geld zurück, verbietet der Frau das Arbeiten oder verwehrt ihr den Sprachkurs oder die Weiterbildung. Eine weitere Form der häuslichen Gewalt ist die sexualisierte Gewalt.
Wenn eine Frau ins Frauenhaus kommt, ist die Situation eskaliert. Was wäre nötig, dass es gar nicht so weit kommt?
Es braucht mehr Präventionsangebote. Die Problematik muss aktiv angegangen werden. In der Öffentlichkeit muss mehr informiert werden, auch darüber, dass Gewalt verschieden sein kann. Es gibt eben nicht nur die körperliche Gewalt, sondern auch die psychische Gewalt. Das Bewusstsein dafür muss überall gesteigert werden, zum Beispiel bei Behörden, bei Gemeinden, Sozialdiensten oder bei Gesundheitsfachpersonen. Es muss überall bekannt sein, dass es sich bei physischer und psychischer Gewalt um einen Tatbestand handelt und dass Betroffene Hilfe in Anspruch nehmen können und sollen. Wichtig ist, dass die Frau immer auch separat angehört wird, zum Beispiel bei Polizeieinsätzen, wenn nötig mit kompetenten Übersetzungsdiensten.
Mit einer besseren Sensibilisierung von Fachpersonen wäre also viel gewonnen?
Nicht alleine – auch die Verhältnisse, in welchen Personen leben, spielen eine Rolle. Es braucht Unterstützung in prekären Situationen. Ich denke an die Wohnverhältnisse: Wenn viele Menschen auf engem Raum leben, ist das natürlich ein Nährboden für Gewalt. Auch angespannte finanzielle und arbeitstechnische Situationen oder ein ungeklärter Aufenthaltsstatus sind Stressfaktoren für Familien, die in Gewalt münden können. Hier müsste mehr Stress herausgenommen und mehr Unterstützung geleistet werden.
Was wünschen Sie sich von der Politik?
Es braucht dringend mehr niederschwellige Unterkünfte, in welchen Fachpersonen Sucht- und Gewaltprobleme gleichermassen angehen. Im Frauenhaus sind wir immer zu stark ausgelastet. Und wir haben starke Barrieren: Frauen mit einer psychischen Beeinträchtigung oder einer Suchterkrankung sind bei uns nicht ideal aufgehoben – da bräuchte es andere Angebote. Es braucht Orte, in welchen Multiproblematiken besser behandelt werden können. Es braucht also auch Fachpersonen, die sich mit den verschiedenen Problemen gleichermassen auskennen.
Was möchten Sie Fachpersonen mitgeben?
Die Problemlagen sind vielseitig und vielschichtig. Es ist extrem wichtig, alles in einem Zusammenhang anzuschauen – jedes einzelne Problem steht mit anderen im Zusammenhang. Ein Beispiel ist auch die Gleichstellung: Will man häusliche Gewalt vermindern, muss man im Bereich Gleichstellung vorwärts machen. Damit das Verständnis für die Vielschichtigkeit besser wird, ist auch der Austausch zwischen verschiedenen Fachbereichen sehr wichtig. Darum finde ich solche Gefässe wie die Stakeholderkonferenz Sucht super – hier kommen verschiedene Fachpersonen und Fachgruppierungen zusammen und lernen voneinander. Das erweitert den Horizont und bildet weiter.