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«Alle Angebote, welche die betroffene Person ins Zentrum setzen, sind lobenswert»

Etienne Maffli, langjähriger Projektleiter bei Sucht Schweiz, hat das Klienten-Monitoring in der Schweizer Suchthilfe wesentlich mitgeprägt. Ende Jahr wird er pensioniert. Spectra blickt mit ihm zurück: Was hat sich während seinem Engagement verändert?

Herr Maffli – was ist act-info?

Etienne Maffli: Das ist die Bezeichnung für das Monitoringsystem der Suchthilfe in der Schweiz. Das Akronym steht für addiction care & therapy information. Dabei werden Daten über die Hilfesuchenden und deren Probleme in den teilnehmenden spezialisierten Einrichtungen erhoben. Die bei Ein- und Austritt gestellten Fragen richten sich nach internationalen Standards. Die gesammelten Daten erlauben es, die Entwicklungen objektiv zu verfolgen: Wie haben sich die Profile und die Situation der Betroffenen entwickelt? Welche Probleme haben sie?

Seit 18 Jahren prägen Sie act-info mit. Was hat Sie motiviert?

Mit act-info sind wir beim Kern der Sache, wenn wir das gesamte Feld der Suchtproblematik betrachten: Bei jenen, die ganz konkret unter einem Problem mit legalen oder illegalen Substanzen leiden. Oder auch bei jenen, die bei substanzungebunden Tätigkeiten wie z.B. Geldspiel oder Online-Aktivitäten die Kontrolle verlieren und damit erhebliche Probleme bekommen. Wahrscheinlich sind die Hilfesuchenden, als offensichtlich Leidende auch jene, die in der Gesellschaft am meisten von Sucht betroffen sind. Gut dokumentierte Fakten zu dieser Gruppe liefern wertvolle Evidenzen, die für Fortschritte in den Bereichen der Prävention und der Intervention nutzbar gemacht werden können. Solche Fakten zu erstellen ist natürlich sehr motivierend. Die Highlights waren für mich jeweils die Datenauswertungen Ende Jahr und der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern, die mit den gleichen Standards arbeiten, sei es über methodische Aspekte oder über Ergebnisse und Tendenzen. Einige gemeinsame Projekte haben wir auch in Zusammenarbeit mit der europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) durchgeführt. Auch dies war sehr stimulierend.

Wie sah das Suchthilfe-Klientel beim Start von act-info aus?

Zu Beginn der Erhebungen in den 90er Jahren bildeten Heroinabhängige die grosse Mehrheit der Suchthilfe-Klientel. Der Anteil ist seither fast kontinuierlich kleiner geworden. Dies lässt sich dadurch erklären, dass wir um 1990 herum eine Spitze in der Verbreitung des Heroinkonsums erlebt haben. Diese hat die Generation der Personen, die damals um 20 Jahre alt waren, ganz besonders betroffen. Danach fand eine entscheidende Reduzierung der Einsteigerinnen und Einsteiger statt.

Warum haben immer weniger Personen angefangen, Heroin zu konsumieren?

Durch die teilweisen sehr innovativen Massnahmen, die nach 1990 eingeführt wurden. Dazu gehören u.a. ein besserer Zugang zu Substitution, Einführung der heroingestützten Behandlung und Massnahmen der Schadensminderung. Zudem hat sich die Attraktivität von Heroin in den nachfolgenden Generationen verändert. Heute beobachten wir immer noch hauptsächlich die Kohorte der Personen, die in den 90er Jahre dem Heroinboom ausgesetzt war – als alternde chronische Heroinklientel.

Gibt es für anderen Substanzen auffällige Veränderungen in der Behandlungsnachfrage?

Besorgniserregend in den letzten Jahren ist die kontinuierliche Zunahme der kokainbezogenen Behandlungsaufnahmen. Da es sich anscheinend um einen aggressiven Markt handelt, und wir über keine Substitutionsmöglichkeiten verfügen, stellt dieser Trend eine Herausforderung auf allen Ebenen der Bekämpfung dar.

Wie hat sich die Versorgungslandschaft der Suchthilfe in der Schweiz generell entwickelt?

Die Versorgungslandschaft der Suchthilfe empfinde ich heute als wesentlich weniger polarisiert als vor 20 oder 30 Jahren, z.B. in Bezug auf die Behandlungsziele. Allgemein wurde erkannt, dass die Betreuung sich nach den Bedürfnissen der betroffenen Personen ausrichten soll und die Ziele flexibel und gemeinsam mit der betroffenen Person ausgearbeitet und abgestimmt werden müssten. Die Rolle der Berufsverbände mit ihren Weiterbildungsangeboten oder Seminaren ist für diese Entwicklung sicherlich wichtig gewesen. Weiter haben wir beobachtet, dass der medizinische und der psychosoziale Zweig der Suchthilfe enger zusammenarbeiten. Allerdings wurde diese Annäherung teilweise aufgrund von erzielten Finanzierungsvorteilen erzwungen, sodass dies in Einzelfällen auf erhebliche Frustrationen stiess. Ebenfalls häufig von Trägerinstanzen gefördert wurden Verschmelzungen von Einrichtungen oder eine Aufgabenteilung zwischen bestehenden Einrichtungen mit ähnlichen Hilfsangeboten. Schliesslich konnten wir eine Erweiterung der Behandlungsangebote bei gewissen Einrichtungen beobachten, die ursprünglich lediglich auf einer Problematik spezialisiert waren.

Wie müsste die Suchthilfe der Zukunft aussehen?

Es hat sich gezeigt, dass die Suchthilfe nicht auf Dogmen wie z.B. «Abstinenz in jedem Fall» basieren kann. Bei manchen Suchtformen ist die Abhängigkeit hartnäckig und die Erfolge können nicht alleine auf der Ebene des Substanzkonsums erzielt werden. Dies erfordert Kreativität, Flexibilität und Offenheit für Aspekte, die nicht unbedingt offensichtlich sind. Seit Beginn der Existenz von act-info haben wir darauf hingewiesen, dass das Monitoring mit dem Eintrittsfragebogen, wo im Prinzip eine Anfangsbilanz der Lage der betroffenen Person auf allen wichtigen Lebensebenen geleistet und dokumentiert wird, eine sehr gute Basismessung für Follow-up oder Katamnese-Studien bietet.

Welche Rolle sollte die Wissenschaft in der Suchthilfe spielen?

Um fortschrittliche Ansätze in der Suchthilfe zu testen oder deren Erfolge zu belegen, sind Kontrollstudien unabdingbar. Die Studien müssen die Verläufe der Klientinnen und Klienten anhand von Nachbefragungen abbilden und diese mit denen von Kontrollgruppen vergleichen. Da unser Wissen über die Wirksamkeit von Intervention eigentlich nur auf solchen Verlaufsstudien aufbauen kann, wäre es wünschenswert, dass entsprechende Studien nicht nur im Ausland, sondern auch in der Schweiz durchgeführt werden. So könnte act-info über seine zwar sehr wichtige Beobachtungsrolle hinaus eine aktivere Rolle in der evidenzbasierten Wissensbildung übernehmen.

Wie hat sich das Klienten-Monitoring in der Suchthilfe während ihrer Laufbahn verändert?

Zum Glück nicht so stark – bei Monitorings-Aktivitäten sind wir auf die Stabilität der Instrumente und der Prozeduren angewiesen, um Veränderungen getreu verfolgen zu können. Die wichtigste Änderung war die Revision der internationalen Standards (Treatment Demand Indicator), an der wir aktiv teilgenommen haben. Dabei ging es insbesondere darum, neu aufkommende Substanzen als eigene Kategorien aufzunehmen und das Phänomen des multiplen Substanzgebrauchs besser zu berücksichtigen. Aufgrund der dezentralen Verwendung von Erfassungssystemen in unserem föderalistischen Land, war die Einführung der revidierten Fragen eine ziemlich aufwendige Angelegenheit… Aktuell wird auf europäischer Ebene die Verwendung von standardisierten Screeningverfahren zur Erfassung von komorbiden psychischen Erkrankungen diskutiert, welche in der Suchthilfe eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen.

Weitere wichtige Änderungen waren die Einführung von neuen Plattformen für die Erfassung der Daten, insbesondere im Bereich der Substitutionsbehandlungen. Die Datenqualität in diesem Bereich wurde dank der Plattform erheblich verbessert. Die Kantone verfügen nun über eine effiziente Verwaltungshilfe bei der Erteilung der entsprechenden Bewilligungen – Behörden, verschreibenden Ärztinnen und Ärzte und Abgabestellen sind vernetzt.

Welche Angebote der Suchthilfe sind aus ihrer Sicht besonders lobenswert?

Das Engagement der Personen, die in der Suchthilfe arbeiten, ist beeindruckend. Diese Arbeit erfordert fortgeschrittene zwischenmenschliche Fähigkeiten und profundes Wissen über die Suchtproblematik sowie über Beratungsansätze. Sie erfordert auch Ausdauer und Toleranz, denn die Begleitung von suchtbetroffenen Personen ist häufig sehr herausfordernd. Alle Angebote, welche die betroffene Person ins Zentrum setzen, sind lobenswert, und da wüsste ich keine Ausnahme! Besonders herauszuheben ist natürlich auch die Teilnahme am Monitoring act-info. An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei allen Personen bedanken, die dazu beigetragen haben.

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Kontakt

Marc Wittwer
Sektion Wissenschaftliche Grundlagen

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