«Das Potenzial der Bildung wird zu wenig genutzt»
Jun. 2023Gesundheit und Soziales: Schnittstellen stärken
5 Fragen an Markus Kaufmann. «Als Gesellschaft sollten wir akzeptieren, dass einige Menschen eine gewisse Zeit lang Unterstützung brauchen. Und wir sollten sie während dieser Zeit mehr fördern», sagt der Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS).
1. Wie viele Menschen, die Sozialhilfe beziehen, kämpfen mit gesundheitlichen Problemen?
Aktuell beziehen ungefähr 265 000 Personen in der Schweiz Sozialhilfe. Ein Drittel davon braucht nur für eine Übergangszeit von höchstens einem Jahr eine finanzielle Unterstützung, ein weiteres Drittel findet innerhalb von drei Jahren wieder einen Weg aus der Sozialhilfe. Aber bei den Personen, die über längere Zeit Sozialhilfe beziehen, haben 63 Prozent belegte gesundheitliche Einschränkungen, wie eine Studie der «Städteinitiative Sozialpolitik» aus dem Jahr 2014 aufgezeigt hat. Diese Menschen sind oft zu krank, um im Arbeitsmarkt zu bestehen, trotzdem haben sie meist keinen Anspruch auf eine IV-Rente. Diese Zahlen zeigen eindrücklich: Wer lange Sozialhilfe bezieht, steht unter grossem psychischem Druck, der auch Folgekrankheiten auslösen kann. So entsteht der Zirkelschluss, dass man in der Sozialhilfe ist, weil man krank ist. Und dass man krank wird, weil man arm ist.
2. Zeigt sich der Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit heute stärker als noch vor fünfzehn Jahren?
Nicht unbedingt, ich denke, diese Problematik war schon immer da. Das Bundesamt für Statistik führt seit 2005 eine detaillierte Sozialhilfestatistik. Wir haben also seit fast zwanzig Jahren sehr gute und genaue Zahlen. Sie belegen, dass die Zahl der Sozialhilfebeziehenden bis 2017 zugenommen hat, aber seither wieder abnimmt. Wir erklären uns diese Entwicklung damit, dass die Invaliden- und die Arbeitslosenversicherung während der 2010er-Jahre die Schrauben angezogen haben. So sind viele Personen, die vorher bei diesen vorgelagerten Versicherungen Leistungen bezogen haben, in die Sozialhilfe gekommen.
Während der Corona-Pandemie sind die Zahlen entgegen unseren Befürchtungen zurückgegangen. Dieser Trend hat sich auch nach der Krise fortgesetzt. Das hat einerseits mit der wirtschaftlichen Lage und dem aktuellen Arbeitskräftemangel zu tun. Es ist heute einfacher, eine Stelle zu finden als noch vor zehn Jahren. Andererseits hat das auch mit dem Ausbau der Sozialversicherungen während der Pandemie zu tun, also etwa mit der Ausweitung der Kurzarbeit und mit der Verlängerung der Taggelder bei der Arbeitslosenversicherung.In der Corona-Krise hat ein Sinneswandel in der Gesellschaft stattgefunden. Vor der Krise galt die Überzeugung, dass jeder, der einigermassen normal ist, es selbst schafft. Und dass wir bei den anderen maximalen Druck anwenden müssen, um die angeblich Faulen zum Arbeiten zu bewegen. Politisch hat es zahlreiche Verschärfungen gegeben, sehr stark auch im Ausländerrecht. In der Pandemie hat diese Sichtweise gewechselt. Wir haben gemerkt: Es kann alle treffen.
3. Wie sieht die Situation in anderen Ländern aus?
Die Schweiz kann sich als reiches Land ein relativ gut ausgebautes Netz leisten. Darum haben wir hier keine offene Prekarität. In den USA gibt es ein viel weniger ausgebautes Netz, deshalb haben sie ein enormes Obdachlosenproblem. Und im Vergleich mit der Schweiz stecken in den USA siebenmal mehr Personen im Gefängnis. Auch aus diesen Gründen ist die Sozialhilfe aus volkswirtschaftlicher Sicht ein effizientes Instrument: Die Existenzsicherung weist ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis auf.
4. Was unternimmt die SKOS, um die Wechselwirkungen zwischen Armut und schlechter Gesundheit einzuschränken?
Ungefähr die Hälfte aller Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger hat keinen Berufsabschluss und deshalb grosse Schwierigkeiten, kurz- und mittelfristig eine Erwerbstätigkeit zu finden. Früher wurden viele dieser Menschen einfach abgeschrieben oder mehr schlecht als recht wieder in den Arbeitsmarkt gedrückt. Wir haben im Jahr 2018 zusammen mit dem Schweizerischen Verband für Weiterbildung eine Weiterbildungsoffensive ins Leben gerufen, die wir jetzt noch weiter ausbauen, damit alle Sozialhilfebeziehenden die Möglichkeit haben, sich aus- und weiterzubilden. Das Potenzial der Bildung wird bisher zu wenig genutzt. Dabei ist erwiesen, dass Bildung die Gesundheit fördern und helfen kann, den Alltag selbstständig zu bewältigen.
«Wer lange Sozialhilfe bezieht, steht unter grossem psychischem Druck, der auch Folgekrankheiten auslösen kann. So entsteht der Zirkelschluss, dass man in der Sozialhilfe ist, weil man krank ist. Und dass man krank wird, weil man arm ist.»
5. Was erhoffen Sie sich für die Zukunft?
Dass die Sozialhilfe die gesellschaftliche Ächtung verliert. Sie soll als etwas gelten, auf das man ein Anrecht hat, wenn es einem schlecht geht. Wir müssen als Gesellschaft akzeptieren, dass einige Menschen eine gewisse Zeit lang Unterstützung brauchen – und wir müssen sie während dieser Zeit mehr fördern, damit sich ihre Situation stabilisieren kann und sie sich beruflich und sozial wieder integrieren können.