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«Familienzentrierte Vernetzung bietet eine starke Hebelwirkung zur Verminderung sozialer Ungleichheiten»

5 Fragen an die Expertin für Gesundheitsförderung im Frühbereich Claudia Meier Magistretti von der Hochschule Luzern. Sie forscht und lehrt international in unterschiedlichen Präventionsfeldern, insbesondere rund um Schwangerschaft, Geburt und die frühe Kindheit.

1 Frau Meier Magistretti, «Familienzentrierte Vernetzung» (vgl. Box) könnte helfen, vulnerable Familien besser zu erreichen. Wieso ist das nötig und was bringen interprofessionelle Vernetzungsstrukturen?

Es ist wichtig, belastete Familien zu erreichen, weil Kinder mit starken Benachteiligungen in den ersten Lebensjahren schlechtere Entwicklungschancen haben. Benachteiligt können sie zum Beispiel sein, wenn ihre Familie von Armut betroffen ist oder ein Elternteil unter einer psychischen Erkrankung leidet. Die «Familienzentrierte Vernetzung» bietet hier eine Möglichkeit mit Hebelwirkung in der Verminderung ungleicher Entwicklungs- und Gesundheitschancen. In der Schwangerschaft und rund um die Geburt sind die Eltern und ihre Kinder sehr gut versorgt und es werden nahezu 100 % aller Eltern erreicht. Bereits in der Versorgung im Wochenbett aber wird ein Teil der Familien in der Sozialhilfe nicht mehr erreicht (vgl. AFFiS-Studie 2019). Wenn belastete Eltern keine Unterstützung in Anspruch nehmen können und ihre Kinder keine Kita oder Spielgruppe besuchen, werden Unterstützungsbedürfnisse erst bei Kindergarteneintritt wieder sichtbar. Dann können die Unterschiede in der Entwicklung und in den Entwicklungschancen schon riesig sein.

Das Modell der «Familienzentrierten Vernetzung» kann dies vermindern. Es nutzt die Zugänglichkeit und die sehr hohe Akzeptanz der Geburtshilfe und anderer Organisationen im Frühbereich, zu denen Familien Vertrauen haben. Wenn diesen Belastungen auffallen, vermitteln sie die Familien an das Netzwerk. In einer sogenannten Gehstruktur nimmt dann die Familienbegleiterin des Netzwerks mit der Familie Kontakt auf, trifft sie oder besucht sie zu Hause und klärt mit ihr den Unterstützungsbedarf ab. Dabei ist es immer die Familie, die entscheidet, welches Hilfsangebot sie beanspruchen möchte. Die Familienbegleiterin vermittelt die geeigneten Angebote und begleitet die Familien bei Bedarf beim Besuch, z. B. einer Schuldenberatung. Als Fachfrau ist sie die Vertraute und in gewissem Sinn die „Wegbereiterin“ der Familie, die sich in den Angeboten auskennt und diese im Dienst der Unterstützung der Familie einsetzt.

2 Ihre Vorstudie «Familienzentrierte Vernetzung in der Schweiz» hat gezeigt, dass wir nicht einfach das «Frühe Hilfen»-Modell aus Österreich kopieren können. Weshalb funktioniert das nicht?

Einige Elemente können wir sicher übernehmen. Zum Beispiel sind es in Österreich die Eltern, die unterstützt durch das Netzwerk die «Regie» behalten und selber entscheiden, wem sie welche Daten zur Verfügung stellen. Damit würden sich viele Probleme, die wir im Frühbereich heute punkto Datenschutz haben, lösen. Schwieriger ist es hingegen, die Strukturen des österreichischen Modells zu übernehmen. Netzwerke sollten grundsätzlich auf Bestehendem aufbauen, die etablierten Strukturen besser nutzen, die Zusammenarbeit untereinander verstärken (vgl. Artikel im SozialAktuell 2015). Das bedingt, dass die Gegebenheiten vor Ort stark berücksichtigt werden müssen. Die bisherige Entwicklung in den Regionen, Kantonen, Städten und Gemeinden in der Schweiz verlief sehr heterogen: Während sich in gewissen Gemeinden die Akteurinnen und Akteure des Frühbereichs noch nicht kennen, werden in anderen bereits Vernetzungsstrukturen aufgebaut. Auch die Situation in den Sprachregionen ist sehr unterschiedlich. Wir können damit nicht wie in Österreich ein Modell auf alle Regionen übertragen.
Hinzu kommen Gründe auf der nationalen Ebene: So kennt die Schweiz im Gegensatz zu Österreich kein Familienministerium, es gibt kein Präventionsgesetz oder andere gesetzliche Grundlagen, die auf nationaler Ebene Strukturen und finanzielle Mittel zur Förderung von Familien sichern würden.

3 Wo sehen Sie besondere Herausforderungen, um bestehende Netzwerke um systematische Früherkennung und Begleitung von mehrfach belasteten Familien zu erweitern?

Die Netzwerke in der Schweiz bestehen meist auf professioneller Ebene, als Vernetzungen zwischen Angeboten, Organisationen, Leistungserbringern oder Verwaltungseinheiten in Gemeinden und Kantonen. Sie sind an den Professionen und Organisationen und deren Kooperation orientiert, nicht familienzentriert und bieten nur sehr vereinzelt die erwähnten Gehstrukturen an. «Familienzentrierte Netzwerke» nach dem österreichischen Modell verfügen über Familienbegleitungen, die aufsuchende Arbeit leisten.
Hinzu kommt eine sehr viel konsequentere Ressourcenorientierung. Es wäre auch hierzulande zentral, darauf zu fokussieren, welche Ressourcen eine Familie mitbringt und wo Unterstützung zusätzlich nötig ist, und weniger defizitorientiert an die Familien heranzutreten. Und schliesslich fehlt es oft auch am politischen Willen, solche Netzwerke zu finanzieren.

4 Es gibt ja in der Schweiz durchaus Bestrebungen zur Vernetzung. Was denken Sie, welche Potenziale könnten noch stärker genutzt werden im Bereich der «Familienzentrierten Vernetzung»?

Der Bund könnte idealerweise die Kantone und Gemeinden mit Knowhow und Anschubfinanzierungen unterstützen. Solche Netzwerke sind nicht so teuer, wie vermutet werden könnte. Aber mit den Netzwerken könnten soziale, gesundheitliche und wirtschaftliche Folgekosten sowie das Leiden in den Familien verhindert oder zumindest verringert werden.

5 Angenommen, die Frühen Hilfen wären in der Schweiz etabliert. Wo besteht bei der Prävention und Gesundheitsförderung in der frühen Kindheit weiterer Handlungsbedarf?

Es bräuchte ein grundsätzliches Umdenken, d. h. eine Familienpolitik, die den Bedürfnissen der Kinder und Familien entspricht und weniger prioritär denjenigen der Wirtschaft. Strukturelle Massnahmen wie biespielsweise ein Elternurlaub könnten die Situation für alle Familien verbessern. In der Folge bräuchte es weniger Hilfssysteme, die im Nachhinein strukturell mitverursachte Probleme vermindern müssen.

Vorstudie «Familienzentrierte Vernetzung in der Schweiz»

Die Vorstudie der HSLU analysierte Schweizer Netzwerke im Frühbereich in Hinblick auf ihr Potenzial zur Früherkennung und niederschwelligen Begleitung von belasteten Familien und verglich sie mit ausgewählten, gut erforschten Netzwerken im Ausland (z. B. Frühe Hilfen). Die Ergebnisse wurden im Rahmen von fünf Modellvarianten in drei sprachregionalen Workshops diskutiert und auf ihre Realisierbarkeit geprüft. Die gesamte Vorstudie wurde durch 21 Schweizer Fachverbände im Frühbereich unterstützt. Das BAG hat die Vorstudie im Rahmen seines Engagements zur Verbesserung der frühkindlichen Gesundheitsförderung und Prävention finanziert.

Ausführlicher Artikel zur «Familienzentrierten Vernetzung»

Prof. Dr. Claudia Meier Magistretti, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, Vizepräsidentin für globale Partnerschaft der International Union for Health Promotion and Education (IUHPE), Copyright: privat.

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Prof. Dr. Claudia Meier Magistretti
Hochschule Luzern – Soziale Arbeit Vizepräsidentin für globale Partnerschaft der International Union for Health Promotion and Education (IUHPE)

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