«Selbstmanagement-Förderung ist auch eine Haltungsfrage»
Menschen mit langandauernden Krankheiten sind zahlreichen Herausforderungen ausgesetzt und stark belastet, ebenso ihre Angehörigen. Um sie zu unterstützen, investiert das BAG in die Förderung des Selbstmanagements. Im Sommer hat das BAG in einem partizipativen Prozesse mit Expertinnen und Experten aus allen Sprachregionen das Konzept der Selbstmanagement-Förderung überarbeitet. Die Projektverantwortliche Nadine Stoffel-Kurt erzählt im Interview von sprachlichen und inhaltlichen Annäherungen, vom Stand der Selbstmanagement-Förderung und vom Forum für Selbstmanagement-Förderung SELF vom 8. November 2022.
Bisher haben in der Schweiz nicht alle das gleiche verstanden unter «Selbstmanagement-Förderung». Worin bestanden die Unterschiede?
Unterschiede gab es vor allem zwischen der deutschsprachigen und der lateinischen Schweiz. In der Romandie und im Tessin spricht man für das Pendant der Selbstmanagement-Förderung von «Éducation thérapeutique du patient», was auf Deutsch therapeutische Patienten-Schulung bedeutet. In der Deutschschweiz verbindet man diesen Begriff nur mit einem Teilbereich der Selbstmanagement-Förderung. In der Diskussion mit Vertretungen aus der Romandie und dem Tessin hat sich allerdings ergeben, dass dieser Begriff in der lateinischen Schweiz nicht als konkreter Interventions-Ansatz verstanden wird, sondern eben als Gesamtkonzept und somit als Pendant der Selbstmanagement-Förderung.
Die Selbstmanagement-Förderung hat das BAG bis anhin mit «promotion de l’autogestion» übersetzt – ein Begriff, der in der Romandie nicht eingeordnet werden konnte, weil der Bezug zum Konzept «Éducation thérapeutique du patient» fehlte. Welchen Term verwenden Sie im überarbeiteten Konzept?
Nach intensiven Diskussionen in der mehrsprachigen Arbeitsgruppe hat man sich nun auf «Promotion à l’autogestion» geeinigt. Diesen Term werden wir also in Zukunft verwenden. Wenn auch grammatikalisch nicht ganz korrekt, schwingt doch ein stärkerer partnerschaftlicher und begleitender Gedanke mit, was uns ein grosses Anliegen war.
Das harmonisierte Konzept bringt aber nicht nur sprachliche, sondern auch inhaltliche Annäherung. Wie sehen diese aus?
Auf der inhaltlichen Ebene haben wir viele Punkte vom Verständnis der ETP übernommen. Zum Beispiel stehen bei der ETP die Berücksichtigung des Erlebten und die Erfahrungen der Betroffenen im Fokus der Behandlungsplanung oder auch die Ausbildung der Fachpersonen hinsichtlich Psychoedukation ist zentral. Auch wird in der ETP die Selbstmanagement-Förderung als gemeinsamen Lernprozess von Fachpersonen, Betroffenen und Angehörigen verstanden. Wir haben alle im Harmonisierungsprozess viel gelernt, das Konzept ist dadurch präziser und kompletter geworden.
Trägt die sprachliche und inhaltliche Annäherung schon Früchte?
Dieser Harmonisierungsprozess hat uns in der nationalen Zusammenarbeit weitergebracht. Dass wir in der ganzen Schweiz vom gleichen sprechen ist sehr wichtig – nur so können wir das Ziel erreichen, die Selbstmanagement-Förderung in den Behandlungspfad zu integrieren. Nur so können wir den Herausforderungen wie der nachhaltigen Finanzierung oder der Qualitätssicherung gemeinsam begegnen. Bei einem unserer Webinare in diesem Sommer war fast die Hälfte der Teilnehmenden französischsprachig – das ist eine positive Folge dieser Annäherung.
Am Forum für Selbstmanagement SELF geht es ebenfalls darum, ein gemeinsames Verständnis zu schaffen. Das harmonisierte Konzept der Selbstmanagement-Förderung ist allerdings nur einer von mehreren Programmpunkten.
Genau – das gemeinsame Verständnis fördern wollen wir über die verschiedenen Sprachregionen hinaus, nämlich auch zwischen den drei Akteursgruppen der Selbstmanagement-Förderung: Betroffene, Angehörige und Fachpersonen/Peers.
Als Hauptprinzip des Konzepts zur Selbstmanagement-Förderung hat sich die partnerschaftliche Haltung herauskristallisiert. Können Sie das ausführen?
Die drei genannten Akteursgruppen arbeiten auf der gleichen Ebene zusammen – partnerschaftlich, auf Augenhöhe und gleichwertig. Die Zusammenarbeit ist wertschätzend –die unterschiedlichen Perspektiven und Expertisen werden respektiert und gewürdigt. Das bedeutet beispielsweise, dass eine Person mit Krebserkrankung die Expertise einer Fachperson anerkennt, weil sie entsprechend ausgebildet ist und schon viele Krebspatienten betreut hat. Gleichzeitig nimmt die Fachperson die krebserkrankte Person ernst, da sie seinen Körper am besten kennt und weiss, was betreffend Therapie für sie machbar ist und was nicht. Die unterschiedlichen Blickwinkel und Expertisen fliessen in die Entscheidungsfindung mit ein. Wir verwenden dafür oft den Begriff der «Ko-Produktion».
Am Forum SELF hält Philippe Marcou aus Frankreich ein Referat. Worüber spricht er?
Frankreich hat 2009 die Selbstmanagement-Förderung im Gesundheitsgesetz integriert. Philippe Marcou erzählt in seiner Rolle als Regionalbeauftragter ETP, wie es dazu gekommen ist – also was es gebraucht hat, damit diese gesetzliche Verankerung erfolgen konnte. Und er erzählt uns auch, wie die Umsetzung bisher erfolgt ist. Was sind die Benefits? Und wo liegen die Herausforderungen? Die Umsetzung ist den französischen Regionen überlassen, d.h. je nach regionaler Politik wird das sehr unterschiedlich umgesetzt.
Was können wir von Frankreich lernen?
Die Selbstmanagement-Förderung ist zwar gesetzlich verankert in Frankreich, dass alleine reicht aber nicht. Für die Umsetzung braucht es trotzdem einen politischen Willen, die Umsetzung muss auch von allen Akteuren mitgetragen werden. Als Konsequenz bedeutet dies auch, dass entsprechende Ressourcen zur Verfügung stehen. Auch müssen alle Umsetzungsschritte gut geplant und budgetiert werden, wie zum Beispiel die Begleitevaluation.
In der Schweiz fehlt eine gesetzliche Verankerung der Selbstmanagement-Förderung, Wie kann die Selbstmanagement-Förderung im Schweizer Gesundheitssystem trotzdem integriert werden?
Diese Frage steht im Zentrum der Podiumsdiskussion am Forum SELF. Nationalrätin Flavia Wasserfallen wird mit Fachpersonen, Betroffenen und Vertreterinnen und Vertretern von Institutionen diskutieren – alle werden ihre unterschiedlichen Blickwinkel einbringen. Wenn der Wille da ist, kann man viel erreichen und die Selbstmanagementförderung stärken. Die Selbstmanagement-Förderung ist sehr stark auch eine Haltungsfrage, von allen drei Akteursgruppen. Damit die partnerschaftliche Haltung beim Behandlungsprozess gelebt wird, braucht es vor allem die entsprechende Einstellung und Fähigkeiten. Generell ist wichtig zu verstehen, dass die Selbstmanagement-Förderung mit ihrem patientenzentrierten Ansatz einen wichtigen Beitrag zur Qualitätsverbesserung der Versorgung leistet und somit allen Akteuren dient.
Präsentationen des Forums SELF und der Workshops, sowie weitere Informationen zu Selbstmanagement-Förderung finden Sie unter www.prevention.ch/selbstmanagement und auf www.bag.admin.ch/selbstmanagement Die Ergebnisse des Forum SELF 2022 werden in einem Bericht im Januar 2023 veröffentlicht.