Wenn ein Verhalten zur Sucht wird
Mär. 2021Verhaltenssüchte
Leitartikel. Im Internet shoppen, mit Freunden online spielen, auf das Lieblingsteam tippen macht Freude und bringt Abwechslung. Die allermeisten Menschen geniessen diese Aktivitäten und kennen ihre Limiten – aber nicht alle. Wenn aus Spass oder Leidenschaft ein exzessives Verhalten wird, können Internet, Kaufen oder Geldspiel zur Sucht werden. Was das BAG im Bereich der Verhaltenssüchte unternimmt, zeigen wir in dieser spectra-Ausgabe.
Definition
Was ist eine Verhaltenssucht? Die Definition ist gar nicht so einfach. Ist jemand süchtig, der wöchentlich im Casino um Geld spielt, sechs Stunden täglich auf der Playstation spielt oder leidenschaftlich gerne online Kleider kauft? Verhaltenssüchte zeichnen sich dadurch aus, dass einst alltägliche Dinge plötzlich fast alles einnehmen: Das Leben der Betroffenen dreht sich zunehmend um die Sucht, sie vernachlässigen Freunde, Familie, Arbeit. Es entsteht ein zwanghaftes Verlangen, es braucht immer mehr. Betroffene können nicht aufhören, auch wenn das Konto längst leer geräumt ist.
Verhaltenssüchte sind substanzungebunden, das heisst, sie sind im Vergleich zu Alkohol oder Tabak nicht an eine psychoaktive Substanz gebunden, sondern an eine Tätigkeit. Ein weiterer Unterschied zu den substanzgebundenen Süchten ist, dass manche Verhaltenssüchte weniger stigmatisiert werden. So kann auch Arbeit süchtig machen, Arbeitssucht wird aber gesellschaftlich oft nicht als Verhaltenssucht gewertet.
Andererseits gibt es auch viele Gemeinsamkeiten: Die Verhaltensmuster der Betroffenen sind ähnlich und in ihrem Gehirn laufen vergleichbare biochemische Prozesse ab. Auch die Gründe für die Entstehung einer Sucht sind oft vergleichbar: Verhaltensweisen helfen manchen Menschen, unangenehme Gefühle – Angst, Stress – zu verdrängen. Und nur eine Minderheit der betroffenen Personen nimmt Hilfe in Anspruch.
Verhaltenssüchte entwickeln sich zu einem zunehmend wichtigen Teil der Suchtproblematik in der Schweiz. Das Bundesamt für Gesundheit konzentriert sich aktuell auf die problematische Nutzung von Geldspiel, Videospielen, Cybersex und Social Media. Diese Süchte sind sehr präsent und ihr Suchtpotenzial wird als beträchtlich eingestuft. Besonders herausfordernd bleibt jedoch die sorgfältige Differenzierung in der Diagnose. Dabei geht es auch darum, zu vermeiden, dass Menschen, die mit Leidenschaft einer bestimmten Tätigkeit nachgehen oder ein Verhalten leben, vorschnell und zu Unrecht als krank eingestuft werden.
Kein isoliertes Phänomen
Verhaltenssüchte sind kein isoliertes Phänomen. Viele Verhaltenssüchtige leiden an psychischen Begleiterkrankungen, etwa an Schlafstörungen, Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen. Aber auch andere Zusammenhänge werden beobachtet: Betroffene, die nach Online-Games süchtig sind, bewegen sich oft zu wenig und ernähren sich mangelhaft. Bei manchen Geldspielsüchtigen sind Alkohol, Cannabis oder Tabak mit im Spiel. Unklar ist, wie die Phänomene zusammenhängen – ob ein Alkoholproblem Geldspielsucht verursacht oder umgekehrt.
Mit Blick auf die Chancengerechtigkeit zeigen die Zahlen: Personen mit tiefem Bildungsniveau haben ein höheres Risiko für Verhaltenssüchte. In der Gruppe der risikoreichen Online-Gamer haben fast doppelt so viele ein tiefes Bildungsniveau.
Zudem spielt das Geschlecht eine Rolle. Insgesamt geht man zwar davon aus, dass Männer und Frauen gleich häufig von Verhaltenssüchten betroffen sind. Jedoch halten sich die Frauen eher exzessiv in den Social-Media-Kanälen auf, während die Männer eher exzessives Online-Gaming praktizieren. Männer begeben sich jedoch häufiger in Therapie als Frauen. Eine exzessive Social-Media-Nutzung junger Frauen beispielsweise bleibt oft unentdeckt und wird von den Eltern als weniger gravierend wahrgenommen.
Das BAG sieht seine Rolle bei den Verhaltenssüchten vor allem in drei Bereichen: Forschung, Monitoring sowie Koordination der präventiven Massnahmen.
Forschung
Die Grundlagenforschung soll dazu beitragen, das Wissen über die Verhaltenssüchte zu erweitern. Zu diesem Zweck hat das BAG eine Studie lanciert, die eine Auslegeordnung erlauben soll. Gegenstand von Debatten ist beispielsweise, ab wann ein Mensch als verhaltenssüchtig gilt. Die Studie soll aufzeigen, mit welchen Messskalen ein Verhalten als problematisch oder pathologisch bezeichnet werden kann. Zudem geht es um den Versuch, die Vielzahl der Begriffe, mit denen Verhaltenssüchte beschrieben werden, zu ordnen und einzugrenzen. Reden wir beispielsweise von Glücksspiel oder Geldspiel? Gibt es die Online-Sucht bzw. die problematische Internetnutzung oder ist das Internet einfach ein weiteres Medium, um Verhaltenssüchte auszuleben?
Eine erste Orientierung zur Begrifflichkeit und zur Schwere der Verhaltenssüchte bietet das weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems). Dort werden ab 2022 die «Gambling Disorder» (Geldspiel) und neu auch die «Gaming Disorder» (Videospiel) als eigenständige Krankheitsbilder beschrieben. Die meisten anderen Verhaltenssüchte werden bisher nicht über ICD definiert. Umso wichtiger sind deshalb klare Begrifflichkeiten und Messskalen.
Monitoring
Im Bereich Monitoring geht es darum, die Prävalenzen und Entwicklungen der Verhaltenssüchte über einen längeren Zeitraum zu beobachten: Nehmen Verhaltenssüchte zu? Wie viele Personen zeigen ein problematisches Geldspielverhalten? Das Monitoringsystem Sucht und NCD des BAG (MonAM) beschreibt einige Verhaltenssüchte mit Zahlen und Fakten und erlaubt eine Beobachtung über die Zeit.
Koordination der Massnahmen
Auf dem Gebiet der Koordination arbeitet das BAG mit Partnern im Suchtbereich zusammen: mit den Suchtverbänden, mit der neuen «Eidgenössischen Kommission für Fragen zu Sucht und Prävention nichtübertragbarer Krankheiten» oder auch mit den kantonalen Suchtbeauftragten. Im Rahmen der Strategie Sucht nimmt die Koordination mit den Partnern eine wichtige Rolle ein. Der Austausch mit diesen erlaubt es dem BAG, neue Erkenntnisse rasch in weitere Forschungsaktivitäten zu integrieren. Zudem hat das Parlament das BAG beauftragt, die Entwicklung der problematischen Internetnutzung in der Schweiz zu beobachten. Unterstützt wird das BAG dabei von der Expertinnen- und Expertengruppe Online-Sucht. Der Fachverband Sucht und der Groupement romand d’études des addictions (GREA) koordinieren im Auftrag des BAG den Austausch unter den Gruppenmitgliedern. In ihrem kürzlich publizierten Synthesebericht zur Online-Sucht sind sich die Expertinnen und Experten einig, dass man nicht an einer «Online-Sucht» leidet, sondern süchtig im Internet ist. Das Internet dient als Mittel zur Suchtbefriedigung. Dies ist eine wichtige Erkenntnis, welche sich beispielsweise auf die Art und Weise, wie wir Verhaltenssüchte statistisch erfassen, auswirken wird.
Mehr Wissen über Verhaltenssüchte ist wichtig, um in Zukunft noch klarer zwischen Leidenschaft und Sucht unterscheiden zu können und verhaltenssüchtigen Menschen Beratung und Therapie anzubieten.