View {title}

zurück

«Gaming Disorder hat viele Gesichter»

Renanto Poespodihardjo ist Leitender Psychologe der Abteilung Verhaltenssüchte stationär (VSS) und ambulant (VSA) der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel sowie Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Fragen zu Sucht und Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (EKSN). An der 4. Stakeholderkonferenz «Nationale Strategie Sucht & Netzwerktagung Psychische Gesundheit Schweiz» thematisierte er Gaming Disorder bei Jugendlichen. Im Interview mit spectra spricht er darüber, was diese 2019 in die ICD-11 aufgenommene Störung ausmacht, wie sich einige Kinder und Jugendliche in digitalen Parallelwelten verlieren, wie Bezugspersonen sie unterstützen können und was die Covid-19-Pandemie mit alldem zu tun hat.

Ab wann sprechen Sie, Herr Poespodihardjo, von einer Gaming Disorder?

Aus klinischer Sicht sind die Kriterien für das Vorliegen einer Gaming Disorder erfüllt, wenn wichtige Entwicklungsaufgaben – wie etwa schulische oder arbeitsintegrative Entwicklung oder selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft – durch Games behindert werden. Die langfristige berufliche oder schulische sowie die soziale Integration kann dadurch nicht gewährleistet werden.

Wie lässt sich das messen?

Die Kriterien orientieren sich an denjenigen für psychoaktive Substanzen, wobei es sich bei Games um psychoaktive Produkte statt um psychoaktive Substanzen handelt. Bei einer Gaming Disorder findet eine übermässige und zunehmende Beschäftigung mit den Games statt. Schulische Aufgaben werden vernachlässigt, andere Hobbys oder terrestrische Beziehungen werden sekundär. Ebenfalls gehen alltägliche Rhythmen (wie etwa der Tag-Nacht-Rhythmus) verloren, Gefühle werden moduliert. Wird nicht gespielt, führt dies zu einer dysphorischen Stimmung. Das Schwierige daran ist: Die digitalen Produkte führen dazu, dass die negativen Konsequenzen, die sich aus einem exzessiven Konsum ergeben, betäubt und dabei gleichzeitig positive Empfindungen generiert werden.

Sind Games per se problematisch?

Video Gaming ist eine Jugendkultur mit eigenen Werten, einer eigenen Sprache, Kultur und Kunst. Davon zeugt auch die Ausstellung «Radical Gaming» im Haus der elektronischen Künste in Münchenstein. In den seltensten Fällen entwickelt sich eine Suchterkrankung. Dies im Gegensatz zu den Erkrankungen im Substanzbereich: Es gibt keine Kokain- oder Benzodiazepin-Kultur. Sobald man regelmässig konsumiert, entwickelt man eine Suchterkrankung.

Wie hat sich die Gaming-Sucht in den letzten Jahren verändert?

Im Gegensatz zu früher sind Offline-Games kaum mehr relevant und Betroffene spielen oft Spiele aus unterschiedlichen Gattungen. Früher war dies anders. Betroffene haben sich primär auf ein bestimmtes Game konzentriert. Zudem werden Frauen immer sichtbarer, auch wenn die Mehrheit der Betroffenen männlich ist. Auch sind die Aktivitäten heute mehrdimensionaler: Es gibt Erkrankte, die aktiv selber spielen, aber auch solche, die vermehrt passiv konsumieren, beispielsweise Streams, Gameplays, Serien etc.

Welche Folgen der Corona-Pandemie beobachten Sie?

Homeschooling und die damit verbundene Verlagerung von realen in digitale Räume war für Kinder und Jugendliche eine Herausforderung. Kinder und Jugendliche mit einem hohen Strukturniveau und einer unterstützenden Familienumgebung konnten diesen Übergang in der Regel gut meistern. Ein gewisser Anteil der Schülerinnen und Schüler hätte aber mehr Unterstützung benötigt, als sie erhalten haben, und sind dadurch von einem exzessiven in ein krankhaftes Verhalten gerutscht.

Problematischer ist meiner Meinung nach aber eine andere, grössere Gruppe. Es handelt sich dabei um diejenigen Kinder und Jugendliche, die vor dem Homeschooling moderat Games konsumiert haben und durch die Verlagerung in den virtuellen Raum in einen intensiven oder sogar exzessiven Gebrauch gerutscht sind, ohne dass sich dies bis jetzt auf die Entwicklungsaufgaben, also beispielsweise auf die schulischen Leistungen, ausgewirkt hat. Die Mehrheit wird sich mit dem Einsetzen des Präsenzunterrichts selbst regulieren. Ein Teil wird aber gelernt haben, dass sich über Games negative Gefühle oder Defizite kompensieren lassen. Diese Gruppe könnte mittel- und langfristig eine entsprechende Störung entwickeln, was mir Sorge bereitet.

Gibt es Unterschiede zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen?

Kinder und Jugendliche sind in der Regel die aktiveren Konsumentinnen und Konsumenten (z. B. im Multiplayer-Modus mit Freundinnen und Freunden) als Erwachsene. Zudem gibt es bei Kindern und Jugendlichen eine enorme Bandbreite. Ein kurz- bis mittelfristig intensiver oder exzessiver Konsum ist nicht per se problematisch. Oft handelt es sich um eine Lebensphase, die sich schnell verändern kann. Je älter die Personen werden, desto ruhiger werden sie und der Konsum reduziert sich. Die Aufmerksamkeit wird auf andere Lebensbereiche gelenkt.

Was passiert, wenn Betroffene lange an einer Gaming Disorder leiden?

Bei einer langjährigen, chronifizierten Krankheit sehe ich in der Praxis oft Betroffene, die mehrheitlich passiv und nicht mehr aktiv konsumieren. Sie spielen oft nicht mehr selbst, sondern sehen anderen dabei zu, etwa in Streams. Erschwerend kommt hinzu, dass sich eine solche Störung auf das psychische Alter auswirken kann. Wenn Betroffene lange Zeit nicht mehr an Integrationsleistungen teilnehmen, ist das psychische Alter oft geringer als das physische. Hilfsstrukturen richten sich aber nach dem physischen Alter, weshalb beispielsweise einem 27-jährigen Erkrankten, der bezüglich der beiden Lebensaufgaben Arbeit und terrestrische Beziehungen psychisch aber jünger ist, nicht die Strukturen zur Verfügung stehen, die für ihn notwendig wären. Ich würde mir deshalb wünschen, die Hilfsangebote für Gaming Disorder würden an den psychischen Altersstrukturen ausgerichtet werden.

Was können Bezugspersonen unternehmen, wenn sie eine Gaming Disorder vermuten?

Wenn Bezugspersonen vermuten, dass Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen nicht mehr umgesetzt werden, dann ist dieses Gefühl meistens richtig. In diesem Fall sollten sie Kontakt mit der Schule aufnehmen. Die Schulsozialarbeit oder Vertrauenslehrerpersonen sind wichtige Ansprechpartner. Bestätigt die Schule, dass Entwicklungsaufgaben nicht mehr im Rahmen der Möglichkeiten umgesetzt werden, gilt es zu prüfen, welche Beratungsstellen sich regional und kantonal mit Verhaltenssüchten beschäftigen. Am allerwichtigsten ist es dabei, nicht allein, sondern gemeinsam zu handeln und sich Unterstützung zu suchen.

Welche professionellen Einrichtungen sind hierfür notwendig?

Es braucht regionale und kantonale Beratungsstellen, die sich auf Verhaltenssüchte spezialisieren, um eine störungsspezifische Triage zu ermöglichen. In diesem Bereich hat sich in den letzten Jahren bereits einiges getan. Im Kanton Zürich etwa gibt es Radix und in Basel unsere Fachstelle, aber auch in weiteren Kantonen bestehen entsprechende Angebote. Die Arbeit im System ist bei der professionellen Hilfe zentral: Es braucht klassische Schulangebote, aber auch klassifizierte Suchtberatungsstellen sowie Nachsorgeeinheiten wie etwa Wohngemeinschaften für chronisch Erkrankte.

Was ist Ihre Take-Home-Message für das Publikum an der Stakeholderkonferenz?

Es gibt nicht die Gaming Disorder. Internetwelten sind sehr differenziert und primär von Menschen belebt, die nicht süchtig sind. Diese Welten haben einen starken Einfluss auf die Gesellschaft von heute und morgen. Wir dürfen also keine Panik entwickeln, wenn sich Jugendliche kurz- oder mittelfristig intensiv oder exzessiv in diesen digitalen Parallelwelten bewegen.

Die Prävention und die Unterstützung von Erkrankten sind aber dennoch zentral. Es braucht niederschwellige und störungsspezifische Versorgungsstrukturen. Diese müssen wir aufbauen.

Contact

Nach oben