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«Prävention und Gesundheitsförderung spielen eine Schlüsselrolle, um die massiven Auswirkungen des ‹Grauen Tsunami› auf unser Gesundheitssystem abzufedern.»

Edition No. 114
Sep. 2016
Life-course

Fünf Fragen an Prof. Christophe Büla. Der Leiter der Abteilung Geriatrie und geriatrische Rehabilitation am Waadtländer Universitätsspital (CHUV) in Lausanne ist massgeblich an der Entwicklung der Geriatrie beteiligt. Auf nationaler Ebene wirkt er als Mitglied der Ausbildungskommission der Schweizerischen Fachgesellschaft für Geriatrie und auf internationaler Ebene sitzt er im Vorstand der Sektion Geriatrie der Europäischen Union der Fachärzte (UEMS), in der er die Schweiz vertritt. Er engagiert sich zudem für die geriatrische Lehre bei Medizinstudierenden, bei der Ärzteschaft und beim Pflegepersonal. Professor Büla erläutert im Kurzinterview die Herausforderungen, welche die Alterung der Bevölkerung mit sich bringt.

Welches sind die Folgen der Überalterung der Bevölkerung auf das Gesundheitssystem? Müssen wir uns auf grosse Veränderungen gefasst machen?

Eigentlich ist es nicht die Alterung der Bevölkerung, sondern der Anstieg der absoluten Anzahl von älteren Menschen, der unser Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen stellt. Diese Senioren sind besonders gefährdet, an chronischen oder akuten Krankheiten zu erkranken. Aus diesem Grund erwarten wir eine Steigerung von 50 bis 70% der Fälle von Herzinsuffizienz, Herzinfarkt, Diabetes, Schlaganfall oder Demenz in den nächsten 30 Jahren.

Darüber hinaus führen diese Erkrankungen oft zu einer Abhängigkeit von Pflege im Alltag. Ihre Zunahme wird daher einen grossen Einfluss auf das Bedürfnis nach Langzeitpflege nach sich ziehen, wie beispielsweise Spitex oder längerfristige Aufenthalte in Pflegeeinrichtungen. Schliesslich sind einige dieser Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes auch verantwortlich für eine beträchtliche Anzahl der Krankenhauseinweisungen. Diese Entwicklung wirkt sich daher auch erheblich auf das Akutspitälersystem aus. Ein Effekt, der bereits heute zu beobachten ist, namentlich in der Inneren Medizin und den Notfallabteilungen.

Die Spitäler müssen also ihre Rolle neu definieren?

Krankenhäuser wurden ursprünglich entwickelt, um gezielt erwachsene Patienten mit einer einzelnen akuten Krankheit zu behandeln, die in der Regel geheilt werden konnte. Mit der Alterung der Bevölkerung werden immer mehr Patienten behandelt werden müssen, die – neben der akuten Krankheit, wegen der sie eingeliefert werden – an mehreren chronischen Krankheiten leiden.

Bei einem akuten Spitalaufenthalt können diese chronischen Krankheiten, beispielsweise Diabetes oder Arthritis, die bisher relativ stabilisiert waren, zu einem Versagen der körpereigenen Abwehrkräfte führen. Daher muss sich die Logik rein kurativer Versorgung in eine Pflegelogik verwandeln, die auch die bestehenden chronischen Krankheiten berücksichtigt und deren Dekompensation verhindert.

Wie bereitet sich das CHUV auf diese Entwicklung vor?

Um diese Veränderungen zu bewältigen, hat das CHUV ein Netzwerk für ältere Menschen eingerichtet, vom Notfall bis zur postakuten Rehabilitation. Dieses Netzwerk besteht aus Fachleuten, die speziell in Gerontologiepflege ausgebildet wurden. Ihre Aufgabe ist es, das Behandlungsteam für älteren Patienten zu unterstützen und den Weg durch das System zu verbessern: beispielsweise durch die Vermeidung eines Aufenthalts im Akutspital, wenn eine direkte Überweisung zur Rehabilitation sofort nach der Notaufnahme möglich ist. Derzeit werden 15% der in die geriatrische Rehabilitation am CHUV aufgenommenen Patienten direkt aus dem CHUV-Notfall überwiesen.

Auf der stationären Ebene hat das CHUV eine Einheit zur Akutversorgung von Senioren geschaffen. Diese hat Evaluations- und Behandlungsprozesse für typischerweise geriatrische Leiden wie Demenz und die damit verbundenen Leiden wie Harninkontinenz, akute Verwirrtheitszustände oder Stürze entwickelt.

Ein besonderer Schwerpunkt liegt auch auf der «Vor-Rehabilitierung». Diese besteht aus Massnahmen, die zum einen die frühe Mobilisierung der Patientinnen und Patienten fördern und zum andern jedes Hindernis für diese Mobilisierung, wie etwa intravenöse Infusionen oder Harnkatheter, vermeiden. Schliesslich wurde ein Programm zur Rehabilitation zu Hause ins Leben gerufen, um akute stationäre Krankenhausaufenthalte und Rehabilitation zu verkürzen. In einigen Situationen erlaubt es dieses Programm sogar, auf den Krankenhausaufenthalt zur stationären Rehabilitation vollständig zu verzichten.

Welche Rolle spielen die Prävention und die Gesundheitsförderung angesichts der Alterung der Bevölkerung?

Prävention und Gesundheitsförderung spielen eine Schlüsselrolle, um die massiven Auswirkungen des «Grauen Tsunami» auf unser Gesundheitssystem abzufedern. Sie sind die Voraussetzung für ein harmonisches Altern bei guter Gesundheit, dank der drei Säulen ausreichende Bewegung, ausgewogene Ernährung und Verzicht auf das Rauchen. Diesen drei Elementen verdanken wir die Reduktion von chronischen Krankheiten wie Alzheimer, Herz-Kreislauf-Krankheiten oder bestimmten Krebsarten um ein Drittel.

In einigen Bereichen scheint Prävention bei älteren Menschen noch effektiver als in der Allgemeinbevölkerung. Herz-Kreislauf-Prävention verzeichnet eine ähnliche Wirksamkeit, aber da die Zahl der Betroffenen bei älteren Menschen grösser ist, steigt der Gesamtvorteil für das Gesundheitssystem in diesem Bereich. Einige Programme zur Früherkennung scheinen ebenfalls besonders effizient zu sein. Dies ist etwa der Fall bei der Darmkrebsprävention, deren maximale Effizienz zwischen 70 und 75 Jahren liegt. Dies ist jedoch eine Altersgruppe, die derzeit durch die in der Schweiz vorgeschlagenen Programme ausgeschlossen ist.

Für Gruppen von gefährdeten und abhängigen älteren Menschen gibt es ebenfalls solide Beweise für den Nutzen von Bewegung bei der Aufrechterhaltung der funktionalen Unabhängigkeit, der Mobilität, für die Sturzprävention und gegen den Verlust der kognitiven Fähigkeiten.

Schliesslich zeigten die Grippeimpfungen positive Effekte, namentlich gegen das Auftreten von Komplikationen wie Lungenentzündungen, Atemwegserkrankungen oder Herzversagen. Einige Studien zum Thema konnten aufzeigen, dass die Impfung einer älteren Person mehr Nutzen einbrachte, als sie kostete. Daten zur Wirtschaftlichkeit der Pneumokokkenimpfung sind hingegen unsicherer.  

Der Patient steht immer im Mittelpunkt der Bemühungen. Inwiefern sind Seniorinnen und Senioren spezielle Patienten?

Ältere Menschen sind spezielle Patienten, weil sie ebenso verletzlich sind wie pädiatrische Patienten. Aufgrund der hohen Prävalenz kognitiver Beeinträchtigung haben sie oft Schwierigkeiten, ihre Vorlieben oder Abneigungen bezüglich Abklärungs- oder Behandlungsmassnahmen zum Ausdruck zu bringen.

Ein zweites spezifisches Element besteht in der Heterogenität dieser Bevölkerungsgruppe. Eine grosse Gefahr besteht darin, nur das chronologische Alter der Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen. Dies kann dazu führen, dass die Ärztin oder der Arzt eine bestimmte Behandlung nicht vorschlägt, weil sie für dieses Alter als sinnlos betrachtet wird. Es kann jedoch durchaus sein, dass robuste Achtzigjährige ebenso viel, wenn nicht noch mehr von bestimmten Behandlungen profitieren als 15 Jahre jüngere Menschen. Sich ausschliesslich auf das chronologische Alter zu stützten statt auf das biologische Alter, erhöht das Risiko von Unternutzung gewisser Behandlungsmethoden bei älteren Menschen ebenso wie deren Übernutzung.  

Zu guter Letzt: Die Gesellschaft zeichnet von älteren Menschen ein Bild, das nicht leicht zu ertragen ist, dasjenige einer Gruppe, die extrem teuer ist. Einige Studien haben gezeigt, dass dieses Image dazu führen kann, dass sie darauf verzichten, einen Arzt zu konsultieren.  

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