
«Wir brauchen in unserem Denken mehr Zwischentöne!»
Nov. 2013Transgender
Begegnung mit Stella Luna Palino. Die Schauspielerin, Sängerin und Seiltänzerin Stella Luna Palino führt im aargauischen Baden das Teatro Palino und die charmante UnvermeidBAR. Vor drei Jahren hat sich dieser schillernde Theatermensch entschieden, nicht nur auf der Bühne, sondern ganz und gar als Frau zu leben.
Eine Halbmondnacht, kühler Herbstwind fegt durch die Altstadtgassen von Baden. In einem hübschen Bistrot sitzen die Leute eng beieinander, warten auf den Chansonabend «Hymne à la vie». Da hört man von draussen Akkordeonklänge. Eine schlanke Frau im dunklen Mantel, das lange blonde Haar unter einem Beret, nähert sich spielend der Türe, bleibt zögernd stehen, geht weiter. Drinnen, auf der Bühne, greift die Pianistin kraftvoll in die Tasten des weissen Flügels. Plötzlich schwebt die Akkordeonspielerin über eine schmale Treppe auf die Bühne. Sie legt den Mantel ab, entzündet eine Kerze und setzt sich auf den Barhocker vor dem roten Plüschvorhang. Aus einem kleinen Tagebuch liest sie vor: von Paris, den Touristen, die sich um das Grabmal von Edith Piaf drängeln. Wie sie sich auf ein anderes Grab setzt, um dem «Spatz von Paris» in Gedanken nah zu sein. Da ertönt das Krächzen einer Krähe und sie muss lächeln ...
Die Sängerin ist Stella Luna Palino, die sich für die Ankündigung dieses Abends zum 50. Todestag der unvergessenen französischen Chansonsängerin auch nackt – mit einem mächtigen Rosenstrauss im Schoss – auf einem roten Plüschsofa ablichten liess. Diese Frau ist erst seit zwei Jahren eine Frau, nachdem sie das Frausein schon viele Jahre auf der Bühne ausprobiert hatte. Sich an Piaf heranzuwagen, hat viel Mut gekostet. Die Nervosität ist spürbar bei den ersten Liedern. Doch bei den grossen Hits «La vie en rose» und «Je ne regrette rien» geht Stella Palino ganz in Edith Piaf auf, und der Abend rundet sich zu einem berührenden Erlebnis für alle Menschen in dem schmucken kleinen Lokal, das sich «UnvermeidBAR» nennt.
Spätes Coming-out
Unvermeidbar war für Stella Palino auch der Weg, den sie in den letzten Jahren gegangen ist. Als Markus Brunner 1957 in Wettingen zur Welt gekommen, wurde sie zum Clown, Mimen, Seiltänzer, Regisseur, Theaterbauer – einem Bühnenmenschen durch und durch. Zwei erwachsene Kinder stammen aus einer Ehe, die dann mit Getöse in die Brüche ging, als Marc nicht mehr nur auf der Bühne, sondern auch im Leben eine Frau sein wollte. Etwas, das seine Exfrau nie verstehen konnte. «Ich habe Rücksicht auf meine Kinder genommen und mein Coming-out erst gemacht, als beide erwachsen waren. Hätte ich den Schritt mit 20 gemacht – ich wäre die perfekte Frau gewesen.»
Palino ist ein Paradiesvogel. «Ich geniesse in Baden den Vorteil, dass mich alle kennen.» Mit seinen oft verrückten und verzückenden Theaterprojekten hat er, der zur Sie wurde, einen Hauch von Welt in diese Kleinstadt gebracht. «Ich fühl mich dort wohl, wo andere die Nase rümpfen», schreibt er in seinem Buch «Zwischen Schmieröl und Pailletten». Durch seine Travestieauftritte verschwammen Bühne und Privatleben, die Figur Stella blieb, auch wenn die Scheinwerfer erloschen, «das Theater wurde für mich ‹total›». Seit einem Jahrzehnt konnte man sich auf der Bühne an Palino – als Frau – gewöhnen. Aber Vorurteile gehören zum Alltag von Transmenschen in einer oft kleinkarierten Welt, in den Läden und Restaurants, auf der Bank, bei Beamten und Lehrern.
Seit zwei Jahren lebt Palino als Frau. Zwar hat sie ihre Papiere noch nicht geändert. «Das Leben ist viel wichtiger als die Papiere.» Gerät sie in eine Polizeikontrolle oder muss sich am Zoll ausweisen, erklärt ein Dokument in ihrem Pass die Diskrepanz zwischen gelebtem Gender und angeborenem Geschlecht.
Lieber Prinzessin gespielt
Schon als kleiner Junge hat sich Marc mehr für Mädchensachen interessiert und gerne Prinzessin gespielt. Viel von diesen Wünschen und Träumen habe er aber in einem geheimen Bereich seines Herzens versteckt, erinnert Stella sich heute.
1978/79 lernte Palino in Paris beim legendären Jacques Lecoc das Theaterhandwerk, und auch heute noch reist Stella regelmässig an die Seine. Paris war auch der Ort, wo sie vor vielen Jahren zum ersten Mal als Frau auf die Strasse ging. «Ich war unglaublich aufgeregt, brauchte vier Stunden, um mich aufzutakeln, und als ich dann endlich allen Mut zusammennahm, um an der Réception meinen Zimmerschlüssel abzugeben, hat der Portier nicht mal aufgeschaut. Dann bin ich einmal um den Block gerannt und vor lauter Angst sofort ins Hotelzimmer zurückgekehrt.» Überhaupt, die Angst. «Angst», meint Stella Palino, «macht unser ganzes Leben kaputt. Angst davor, was die anderen sagen könnten, Angst vor dem, was wohl der Nachbar denkt.»
Spielerisch die Angst überwinden
Die Bühne war der ideale Ort, um die Angst zu besiegen und um das Frausein zu üben. In diesem geschützten Rahmen hat Marc Palino als Travestiekünstler Lieder von Zarah Leander, Marlene Dietrich und Hildegard Knef gesungen. Und irgendwann wollte er sich nicht mehr abschminken. «Wir spielen ein Leben lang. Man muss den Mut haben, sich selber zu inszenieren – nicht nur auf der Bühne.» Palino empfiehlt das Spielen mit der eigenen Identität, auszuprobieren, wie man sich als Frau bewegt, «nicht wie ein Bauarbeiter, aber auch nicht wie ein Mannequin auf dem Laufsteg». Dabei habe ihm seine Pantomimenausbildung viel geholfen.
In Amtsstuben braucht es gelegentlich ein gerüttelt Mass an Humor und Selbstironie, wenn Stella Palino als «Herr Brunner» angesprochen wird – aus Beamtensicht logisch, denn das steht ja auch (noch) in ihren Papieren, «solange bin ich für den Beamten ein Mann». Keinen Problemen ist Palino im Gesundheitswesen begegnet, mit ihrem Psychotherapeuten und ihrer Hormonärztin verbindet sie ein vertrauensvolles Verhältnis. Den Schritt, ihren Körper operativ anzupassen, hat Palino noch nicht unternommen. Gross ist die Angst davor, die Libido zu verlieren, wie es vielen operierten Transfrauen geschehen ist, mit denen Palino sich über das Thema ausgetauscht hat. «Heute ist sehr vieles möglich, die Chirurgen sind in der Lage, wunderschöne Vaginas zu formen. Aber sie können nicht garantieren, dass man damit auch noch Lust empfinden kann.» Ob mit oder ohne Penis, worauf es ankomme, sei die Empfindung und das Gefühl, eine Frau zu sein. Wir wollen als Frau wahrgenommen werden!»
Allerdings betont Palino, dass es eben gerade nicht darum gehe, nur zwei Schubladen für «Mann» und «Frau» zu haben. «Wir brauchen in unserem Denken mehr Zwischentöne!» Dafür müsste viel getan werden in den Schulen, denn die jungen Leute von heute seien wieder eher traditionell eingestellt. Umso wichtiger sei die unkomplizierte Anerkennung bei den Behörden – «warum nicht als drittes Geschlecht, wenn wir doch in keine Schublade passen?»
Zur eigenen Identität gefunden
Obwohl sie schon als Kind eine Sehnsucht nach einer weiblichen Identität verspürte, möchte Palino ihre Jahre als Mann nicht missen: «Ich hatte schöne Lieben mit Frauen, habe zwei tolle Kinder aufgezogen. Und auch das Mannsein hatte seinen Platz.» Freude und Stolz erfüllt Palino, dass ihre Tochter den Weg zum Theater eingeschlagen hat und auf der Bühne singt.
Irgendwann ist in der «UnvermeidBAR» auch die letzte Zugabe verklungen. Als sich Stella Luna Palino vor dem begeisterten Publikum verbeugt, ergreift ein älterer Herr mit wehenden weissen Haaren rasch ihre Hand und drückt verstohlen einen Kuss darauf. «Den schönsten Teil meines Lebens lebe ich jetzt. Und ich hoffe, er dauert noch ein paar Jahre.»