«Im Zentrum der Interprofessionalität steht der gegenseitige Respekt»
Okt. 2021Interprofessionalität und koordinierte Versorgung
Wir müssen die Rollen und Aufgaben im Gesundheitswesen grundlegend überdenken. Dadurch verbessert sich auch die Behandlungsqualität, sagt Monika Brodmann Maeder, Präsidentin des Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und Fortbildung.
Frau Brodmann Maeder, was verstehen Sie unter dem etwas sperrigen Begriff der Interprofessionalität?
Für mich bedeutet der Begriff in erster Linie eine qualitativ hochstehende Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen innerhalb des Gesundheitswesens. Weiter gefasst bedeutet Interprofessionalität aber auch den Einbezug von Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen. Denn auch sie sind massgeblich beteiligt am Genesungsprozess, der auf eine Verletzung oder eine Krankheit folgt.
Die interprofessionelle Zusammenarbeit geht für Sie über das Fachpersonal hinaus?
Ja, die Patientenrolle hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Das lateinische Patiens, das das Erdulden und passive Aushalten einer Krankheit beschreibt, trifft heute auf viele Betroffene nicht mehr zu. Früher gingen die Leute zur Ärztin, zum Arzt, wenn ihnen etwas wehtat, mit der Erwartung, dass die Expertin schon wisse, was zu tun sei. Heute informieren sich die Personen im Internet, bevor sie eine Ärztin aufsuchen. Das schafft völlig andere Voraussetzungen für die Betreuung und Behandlung. Wir müssen die Patientinnen und Patienten abholen und mitentscheiden lassen, wenn wir möchten, dass die Therapien mitgetragen und auch besser befolgt werden. Für die Gesundheitsfachpersonen bedeutet das, dass wir uns nicht nur mit anderen Berufsgruppen absprechen und koordinieren müssen, sondern eben auch mit Laien.
Zu Ihrer Zeit am Notfallzentrum des Inselspitals haben Sie gemeinsame Weiterbildungskurse für Pflegefachpersonen und die Ärzteschaft organisiert. Wieso?
Den Ausschlag gegeben hat ein gewisses Unbehagen der Pflegefachpersonen. Sie beklagten sich, von den Ärzten nicht gehört und nicht ernst genommen zu werden. Die Pflegenden fanden auch, dass die Qualität ihrer Arbeit darunter leidet. Während meiner Zeit am Inselspital habe ich mich im Rahmen meiner Masterausbildung mit der Interprofessionalität auseinandergesetzt. Als ich von der Unzufriedenheit der Pflegenden erfuhr, kam deshalb relativ rasch die Idee für ein gemeinsames Weiterbildungsangebot auf.
Wie sah dieses Angebot aus?
Wir haben ein Kernteam von zehn Instruktorinnen und Instruktoren gebildet, das je zur Hälfte aus Angehörigen der Pflege und der Ärzteschaft bestand. In den Kursen haben wir viel mit Simulationen gearbeitet, also relevante Situationen nachgestellt – mit Puppen aus Kunststoff für die Reanimation, aber auch mit Schauspielerinnen und Schauspielern, wenn es etwa um das Überbringen von schlechten Nachrichten ging. Im anschliessenden Debriefing haben wir dann jeweils gemeinsam analysiert, was gut und was weniger gut gelaufen ist. Für uns waren diese Weiterbildungskurse auch eine Möglichkeit, stereotypische und eingeschliffene Verhaltensmuster gemeinsam zu reflektieren – und so aufzuweichen. Wir haben zum Beispiel ein Simulationsszenario entwickelt, bei dem die Ärztin oder der Arzt so am Patientenbett steht, dass nur die Pflegefachperson den Monitor mit der Herzkurve im Blick hat. Noch heute sehe ich eine Pflegefachfrau vor mir, die den Kurs vor 20 Jahren besucht hat: Als sie auf dem Monitor eine schwerwiegende Rhythmusstörung bemerkte, holte sie Luft. Offensichtlich war ihr erster Impuls, etwas zu sagen, doch am Schluss liess sie es sein. Beim Debriefing danach habe ich die Person auf diesen Moment des Luftholens angesprochen. Tatsächlich hatte sie das Kammerflimmern entdeckt und gedacht, dass es gleich zum Herzstillstand kommt, aber sie hatte dem Arzt nicht dreinreden wollen.
«Als ich vor 30 Jahren Medizin studierte, war die Ausbildung noch sehr stark auf den eigenen Beruf ausgerichtet. Wir kamen als Studierende nur mit anderen Ärztinnen und Ärzten in Kontakt. Heute ist es normal, dass zum Beispiel auch eine psychologische Psychotherapeutin einer Gruppe von Medizinstudierenden ihre Arbeit vorstellt.»
Doch durch ihr Schweigen hätte sie das Leben des Patienten riskiert?
Ja, genau deswegen trägt die Interprofessionalität nicht nur zu einer Qualitätsverbesserung in der Behandlung und Betreuung von Patientinnen und Patienten bei, sondern erhöht letztlich auch deren Sicherheit.
Was halten Sie von der Aussage, dass Interprofessionalität zwar die Arbeitsqualität verbessert, aber halt auch mehr kostet?
Mich überzeugt diese Aussage aus zwei Gründen nicht. Erstens: Wenn Sie dank einer guten Zusammenarbeit die Behandlungsqualität erhöhen, passieren Ihnen im Schnitt weniger Fehler. Dadurch reduzieren sich auch die schweren Versehen mit Haftpflichtrelevanz. Deshalb lohnen sich die Investitionen in die Interprofessionalität längerfristig auch aus ökonomischer Sicht, wie mehrere Studien aus den USA belegen. Zweitens: Unter dem Stichwort «Task Shifting» wird heute – mitunter auch heiss – diskutiert, welche der bisher ausschliesslich ärztlichen Aufgaben von anderen nichtärztlichen Gesundheitsfachleuten, zum Beispiel Apothekerinnen oder Pflegefachpersonen, übernommen werden könnten. Das erklärte Ziel ist dabei die Senkung der Gesundheitskosten. Aber bei diesem Thema sind noch viele Fragen offen.
Inwiefern ist Interprofessionalität ein neues Thema im Gesundheitswesen?
Als ich vor 30 Jahren Medizin studierte, war die Ausbildung noch sehr stark auf den eigenen Beruf ausgerichtet. Wir kamen als Studierende nur mit anderen Ärztinnen und Ärzten in Kontakt. Heute ist es normal, dass zum Beispiel auch eine psychologische Psychotherapeutin einer Gruppe von Medizinstudierenden ihre Arbeit vorstellt. Das dürfte es künftigen Ärztinnen und Ärzten vereinfachen, die «Ein-Beruf-Silos» zu überwinden und sich in Angehörige anderer Berufsgruppen hineinzudenken. Hinzu kommt, dass sich in letzter Zeit viele nichtärztliche Gesundheitsberufe weiterentwickelt und professionalisiert haben.
Wie wirkt sich diese Professionalisierung auf die Zusammenarbeit aus?
Unsere Gesellschaft hat über Generationen hinweg Bilder erschaffen, die immer noch wirkmächtig sind. Denken Sie etwa an das Bild der Krankenschwester, die fürsorglich zu den Patientinnen und Patienten schaut. Oder das Bild vom Herrn Doktor, dem Halbgott in Weiss, dem alle anderen Personen nur zudienen. Doch mit dem Aufkommen von Fachhochschulen und weiteren Bildungsangeboten hat die Ausbildung etwa für Pflegefachkräfte, Hebammen, Ernährungsberater, Physio- und Ergotherapeutinnen einen Qualitätszuwachs erfahren. Das sorgt für Reibungsflächen, denn mit der besseren Ausbildung geht auch ein höheres Selbstvertrauen einher. Und mit dem steigenden Selbstbewusstsein der nichtärztlichen Gesundheitsfachpersonen kommt auch der Ruf nach einer partizipativen Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Es gilt, die Hierarchien im Gesundheitswesen grundlegend zu überdenken und die Schnittstellen zwischen den Fachpersonen zu beleuchten. Erst mit der Thematik der Interprofessionalität ist dieser Prozess richtig in Gang gekommen.
«Es gilt, die Hierarchien im Gesundheitswesen grundlegend zu überdenken und die Schnittstellen zwischen den Fachpersonen zu beleuchten. Erst mit der Thematik der Interprofessionalität ist dieser Prozess richtig in Gang gekommen.»
Sie meinen, dass es in der Interprofessionalität also auch darum geht, die Medizinerinnen und Mediziner von ihrem Sockel zu stürzen?
Nein, das ist nicht das Thema. Im Zentrum der Interprofessionalität stehen für mich der gegenseitige Respekt und die Wertschätzung für die Arbeit von Fachpersonen im Gesundheitswesen mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen und Perspektiven.
Wie haben Sie diesen Respekt in den gemeinsamen Weiterbildungskursen vermittelt?
Es ging darum, den Teilnehmenden bewusst zu machen, dass alle Mitarbeitenden des Notfallzentrums «Profis» sind. Und dass im Behandlungs- und Betreuungsprozess verschiedene Rollen und Aufgaben verteilt und übernommen werden müssen. Diese Verteilung muss nicht hierarchisch organisiert sein, sondern sie kann auch in einer Art Netzwerk erfolgen. Natürlich braucht es eine klar definierte Koordinationsfunktion, aber auch nichtärztliche Fachpersonen können solche Rollen übernehmen. In der Rehabilitation, wo ich vor dem Notfall gearbeitet habe, haben zum Beispiel auch Mitarbeitende vom Sozialdienst oder von der Physiotherapie koordinative Funktionen ausgeübt.
«Viele Personen verbinden eine Frau mit dem Pflegeberuf – und nur Männer mit dem Arztberuf. Solche Stereotype sind heute zwar überholt, aber immer noch in vielen Köpfen präsent.»
Es gibt Personen mit kommunikativen und koordinativen Stärken und andere, die in dieser Hinsicht weniger begabt sind. Inwieweit lassen sich solche Fähigkeiten erlernen?
Natürlich gibt es Leute mit einem angeborenen Talent für kommunikative und koordinative Aufgaben, aber man kann sich das auch erarbeiten. In unseren Weiterbildungskursen ging es unter anderem darum, explizit auf Dinge aufmerksam zu machen, die sonst im Team nur implizit mitschwingen. Zum Beispiel: Es ist klar geregelt, dass im Schockraum bei der Behandlung von Schwerverletzten immer eine Oberärztin oder ein Oberarzt vom Notfall für die Koordination zuständig ist – und die Teamleitungsfunktion übernimmt. Doch eine unscheinbare Frau wird dabei häufiger übersehen als ein grosser Mann mit einer sonoren Stimme. Zudem spielen auch unbewusste geschlechtsspezifische Berufszuschreibungen eine Rolle: Viele Personen verbinden eine Frau mit dem Pflegeberuf – und nur Männer mit dem Arztberuf. Solche Stereotype sind heute zwar überholt, aber immer noch in vielen Köpfen präsent.
Das Ziel der gemeinsamen Weiterbildungskurse war, die Arbeitsqualität auf dem Notfall zu verbessern. Im Rückblick betrachtet: Haben Sie dieses Ziel erreicht?
Wir haben das Programm nicht wissenschaftlich ausgewertet, ich kann Ihnen deshalb keine evidenzbasierte Antwort geben. Trotzdem bin ich überzeugt, dass wir Wichtiges erreicht haben. Die Resultate zeigen sich nicht in grossen Umstürzen, das Team im Schockraum wird nach wie vor von jemandem aus der Ärzteschaft und nicht von einer Pflegefachperson geleitet. Doch kleinere Dinge haben sich ins Positive gedreht. So haben sich die Atmosphäre und die Art der Zusammenarbeit auf dem Notfall spürbar verbessert, das fällt auch Leuten aus anderen Abteilungen auf. Sogar wenn es brodelt, pflegt das Team untereinander eine wertschätzende Kommunikation. Offenbar konnten die Mitglieder des Kernteams als Vorbilder wirken und so, indem sie die Bildungsinhalte aus den Kursen in die Praxis einfliessen liessen, allmählich einen Kulturwandel einleiten.
Wie schätzen Sie die künftige Entwicklung der Interprofessionalität ein?
Ich bin sicher, dass sie weiterhin an Bedeutung gewinnen wird. Von der Aufwertung der nichtärztlichen Berufe können wir alle profitieren. Allerdings wird es in nächster Zeit zu weiteren Auseinandersetzungen kommen, weil die Rollen und Aufgaben der Berufsgruppen neu geklärt werden müssen. Ausserdem fehlen vielerorts noch interprofessionelle Vorbilder. Wahrscheinlich dauert es deshalb noch eine ganze Weile, bis alle in ihre neuen Rollen hineingewachsen sind – und wirklich auf Augenhöhe zusammenarbeiten.
PD Dr. med. Monika Brodmann Maeder hat an der Universität Basel Medizin studiert und sich daraufhin in Innerer Medizin, Chirurgie, Anästhesie und in der Neurorehabilitation von Querschnittgelähmten und Hirnverletzten weitergebildet. Über zehn Jahre lang arbeitete sie in den Gebirgsbasen der Luftrettungsorganisation Rega. Von 2016 bis 2021 war Brodmann Maeder am Universitären Notfallzentrum des Inselspitals Bern tätig, zuletzt als leitende Ärztin. Seit Februar 2021 präsidiert Brodmann Maeder das Schweizerische Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF).