«Safer Smoking»?
Sep. 2017Suchtprävention – quo vadis?
Chancen und Risiken der Schadensminderung. Die Verdienste der Schadensminderung bei der Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten im Drogenbereich und der Reduktion von drogenbedingten Todesfällen sind unbestritten. Doch inwiefern lässt sich dieser Ansatz auf die legalen Suchtformen übertragen? spectra diskutiert mögliche Chancen und Risiken der Schadensminderung bei legalen Substanzen am Beispiel des Tabakkonsums.
Die Nationale Strategie Sucht 2017–2024 des Bundesamtes für Gesundheit schlägt vor, das in der Drogenpolitik erfolgreich erprobte Konzept der Schadensminderung – wo sinnvoll und notwendig − auf legale Suchtmittel wie Tabak, Alkohol und Medikamente zu übertragen. Wie am Beispiel des Tabaks gezeigt werden soll, ist dies keine einfache Aufgabe.
Die konventionelle Public-Health-Antwort auf das Problem des Tabakrauchens lautet «Quit or Die», setzt also voll auf Abstinenz. Doch herkömmliche Rauchstoppinterventionen weisen eine hohe Misserfolgsrate zwischen 67 und 97 Prozent auf. Offensichtlich kann oder will ein beachtlicher Teil der Rauchenden nicht aufhören. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Praktiken der Schadensminderung aus Sicht der öffentlichen Gesundheit eine Alternative zur Tabakabstinenz sein können.
Schadensminderung im Tabakbereich umfasst alles, was Risiken und Schäden des Tabak- oder Nikotinkonsums reduziert, aber nicht notwendigerweise den Konsum selbst. Dieser Ansatz ist bei Tabak besonders vielversprechend, weil Nikotin zwar hauptverantwortlich für die Suchtentwicklung ist, aber bei den Risiken des Tabakrauchens nur eine unbedeutende Rolle spielt. Die tabakbedingte Sterblichkeit wird in erster Linie durch den Tabakrauch verursacht, der beim Verbrennen des Tabaks entsteht und welcher bis zu 69 krebserregende chemische Verbindungen enthält. Die Risiken des Zigarettenrauchens sind also nicht primär ein Suchtproblem, sondern ein Problem der Konsumform. Dadurch unterscheidet sich die Nikotinabhängigkeit von anderen substanzbasierten Süchten wie etwa der Alkoholabhängigkeit.
Risikoärmere Nikotinaufnahme
Wenn Nikotin effektiv und in einer akzeptierten Form ohne Verbrennung verabreicht werden könnte, liessen sich die gesundheitlichen Risiken des Tabakkonsums möglicherweise deutlich reduzieren. Ein solcher Ansatz wird mit dem Wechsel auf weniger schädliche Nikotinprodukte wie pharmazeutische Nikotinersatzprodukte (Kaugummi, Pflaster usw.), nikotinhaltige E-Zigaretten, verdampfbare Tabakprodukte und Kautabak sowie Snus verfolgt. Die Langzeitrisiken vieler dieser Produkte können derzeit noch nicht umfassend abgeschätzt werden. In Fachkreisen ist jedoch unbestritten, dass sie alle bedeutend weniger gesundheitsschädigend sind als das Tabakrauchen. Unbedenklich sind die Nikotinersatzprodukte, welche in klinischen Studien umfassend überprüft wurden. Allerdings stossen diese Produkte bei den Rauchern nur auf geringe Akzeptanz. Deshalb werden für den Ausstieg aus dem Zigarettenkonsum vermehrt E-Zigaretten diskutiert, bei denen die Wirkstoffe verdampft werden. Diese weisen einige wichtige Ähnlichkeiten mit klassischen Zigaretten auf, welche sie für Raucher potenziell attraktiv machen.
Individuelle versus öffentliche Gesundheit
In der Tabakprävention ist nun aber eine Kontroverse um Risiken und Nutzen der Schadensminderung entbrannt, die die Präventionsgemeinschaft entzweit. Während die britische Gesundheitsbehörde Public Health England die E-Zigarette für eine «Chance, Rauchern beim Aufhören zu helfen» hält, schreibt das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) der E-Zigarette insgesamt «mehr Schadenspotenzial als Nutzen» zu. Wie kommt es zu diesen entgegengesetzten Einschätzungen? Hier ist es wichtig, zwischen den Auswirkungen einer solchen Produktekategorie auf die individuelle Gesundheit und jenen auf die öffentliche Gesundheit zu unterscheiden. So sinkt das Risiko des einzelnen Rauchers beim Umstieg auf die Verdampfung zwar deutlich. In der Summe kann die Förderung eines neuen Produkts wie E-Zigaretten oder Snus die öffentliche Gesundheit aber stärker belasten, wenn dadurch Menschen mit dem Nikotinkonsum beginnen, die ansonsten nicht eingestiegen wären und später womöglich auf Zigaretten umsteigen werden. Die Faktoren, welche die öffentliche Gesundheit beeinflussen, sind ganz offensichtlich zu vielschichtig, um sie auf die einfachen Eigenschaften eines Produktes zu reduzieren.
Geschicktes Marketing der Industrie – mit gesundheitlichen Folgen
Die Einführung der Light-Zigarette in den 1970er-Jahren hat gezeigt, welche negativen Folgen für die öffentliche Gesundheit ein vermeintlich weniger schädliches Produkt haben kann: Die Raucher haben deren tieferen Nikotingehalt durch stärkeres Inhalieren kompensiert. Durch die verharmlosende Bezeichnung wurde dem Verbraucher suggeriert, das Produkt sei weniger gefährlich.
Die Bemühungen im Bereich der strukturellen Tabakprävention (Werbeeinschränkungen, Preisgestaltung usw.) wurden durch die Eigeninitiative der Industrie um Jahre zurückgeworfen. Wie das Beispiel darlegt, ist die Möglichkeit, dass Schadensminderung beim Tabak, beim Alkohol oder auch beim Glücksspiel zu Marketingzwecken missbraucht wird, durchaus real. Im Gegensatz zu den illegalen Drogen ist die Existenz einer mächtigen Industrie bei den legalen Suchtmitteln ein zentraler Faktor, der nicht ignoriert werden darf.
Entscheidend ist die Wirksamkeit der Massnahmen
Aus Sicht der öffentlichen Gesundheit interessiert ausschliesslich, welche Programme, Praktiken und Interventionen nachgewiesenermassen wirksam sind, unabhängig davon, ob es sich um schadensmindernde, präventive, therapeutische oder repressive Massnahmen handelt. Deren Etikettierung mit einem bestimmten suchtpolitischen Konzept ist zweitrangig.
In diesem Sinne geht es nicht mehr um die Frage des «Quit or Die», sondern der wirksamsten Mischung, wie es Tim Stockwell mit Blick auf die Alkoholthematik formuliert hat: «Supply, demand, and harm reduction: What is the strongest cocktail?» (1)
(1) vgl. Stockwell, Tim: Supply, Demand and Harm Reduction: What Is the Strongest Cocktail, International Journal of Drug Policy 17 (2006), S. 269–277.
POTENZIELLE CHANCEN UND RISIKEN VON E-ZIGARETTEN FÜR DIE ÖFFENTLICHE GESUNDHEIT
POTENZIELLE CHANCEN
- Reduktion der Schadstoffeinnahme (durch Produktdesign)
- Substitution klassischer Zigaretten durch Verdampfungsprodukte
- Reduktion der Exposition der Bevölkerung mit Zigarettenrauch (Passivrauchschutz)
- Weniger schädliche Alternativen zur Zigarette für Neueinsteiger
POTENZIELLE RISIKEN
- Unbekannte Langzeitrisiken, unabhängig der bekannten Schadstoffe im Rauch (z.B. Auswirkungen auf die Lungen infolge langjährigen Einatmens von Polyethylenglykol bzw. Glyzerindämpfen)
- Negativer Einfluss auf Ausstiegsraten durch Verbreitung des dualen Konsums (klassische/elektronische Zigaretten)
- Einstieg in die Sucht über den Konsum von elektronischen Zigaretten, insbesondere bei Jugendlichen (sog. Gateway-Phänomen)
- Renormalisierung des Tabakkonsums bzw. des Rauchens
- Verminderung des politischen Drucks, um effiziente Massnahmen wie Besteuerung, Werbeverbote usw. zu beschliessen
Diese Liste ist nicht abschliessend, und es fehlt derzeit noch an verlässlichen Daten, um diese Aspekte zu gewichten und gegeneinander abzuwägen.