Soziale Benachteiligung erzeugt ungleiche Gesundheitschancen
Jan. 2018Chancengleichheit
Gesundheitliche Chancengleichheit. Unser Gesundheitssystem beruht auf dem Grundprinzip der Offenheit und Solidarität: Es muss den Bedürfnissen aller Bevölkerungsgruppen gerecht werden – unabhängig von ihrer Sprache, ihrer Herkunft, ihrem sozialen Status und ihrem Bildungsniveau. Das heisst, es sind oft besondere Anstrengungen nötig, um auch Benachteiligte mit Grundversorgung, Gesundheitsförderung und Prävention zu erreichen.
Die Förderung der gesundheitlichen Chancengleichheit und des chancengleichen Zugangs zur Gesundheitsversorgung sind Leitmotive der Schweizer Gesundheitspolitik. Alle sollen die gleichen Möglichkeiten zur Entwicklung, zur Erhaltung und wenn nötig zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit haben, lautet das Ziel.
Der Bundesrat will mit seiner Strategie Gesundheit2020 Krankheiten und damit verbundenes Leid durch eine wirksame Vorbeugung, Früherkennung und Langzeitversorgung bekämpfen. Auch soll die Kompetenz der Bevölkerung in Gesundheitsfragen erhöht, unnötige Behandlungen und Komplikationen vermieden und die Effi zienz des Gesundheitssystems gesteigert werden. Dies kann nur gelingen, wenn wir alle Bevölkerungsgruppen miteinbeziehen und ein besonderes Augenmerk auf Benachteiligte legen. Denn die Schweizer Bevölkerung ist heterogen, und es gibt verschiedene Gruppen, die nicht leicht Zugang zu unserem Gesundheitssystem und zu wichtigen Gesundheitsinformationen finden.
Der Zugang zum Gesundheitssystem ist dank der obligatorischen Krankenpflegeversicherung grundsätzlich gesichert. Dennoch nehmen bestimmte Bevölkerungsgruppen notwendige Versorgungsleistungen nicht genügend oder nicht zielgerecht in Anspruch. Wir stehen vor der Herausforderung, ihre Gesundheitschancen zu verbessern, indem wir für alle einen leichten Zugang zu Gesundheitsförderung, Prävention und Gesundheitsversorgung schaffen und die Kluft zwischen Privilegierten und Benachteiligten verringern.
Ungleiche Ressourcen, komplexe Wirkung
Wer aber sind die Benachteiligten und welche Massnahmen können ihre Situation konkret verbessern? Die Auseinandersetzung mit gesundheitlicher Chancengleichheit führt uns unweigerlich über den engeren Gesundheitsbereich hinaus. Es stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Verteilung von Ressourcen, Lebenschancen und Handlungsmöglichkeiten in unserer Gesellschaft. Denn soziale Ungleichheit, also die ungleiche Verteilung materieller und immaterieller Ressourcen, hat einen grossen Einfluss auf die Gesundheit. In der wissenschaftlichen Literatur wird der Zugang zu Ressourcen meist entlang von Unterschieden im sozioökonomischen Status (d.h. Unterschieden hinsichtlich der Bildung, des beruflichen Status und des Einkommens) beschrieben.
Soziale Benachteiligung erzeugt ungleiche Gesundheitschancen. Durch schlechtere Lebensbedingungen und riskanteres Gesundheitsverhalten sind sozial Benachteiligte oft schon von Geburt an gesundheitlich stärker belastet. Als weitere Bestimmungsfaktoren sozialer Ungleichheit werden Geschlechtsidentität, Alter, Migrationshintergrund, Behinderung oder Wohnregion genannt. Einzelne oder mehrere dieser Faktoren können die gesundheitliche Situation einer Person beeinflussen und ungleiche Gesundheitschancen bewirken. Allerdings beeinflussen sie die Gesundheit nur selten direkt. Ein höheres Einkommen macht einen zum Beispiel nicht automatisch gesünder. Diese Faktoren wirken vielmehr in komplexer Weise auf unser Verhalten und unseren Lebensstil und damit auch auf unsere Gesundheit.
Gesundheitsrisiken der Benachteiligten
In der Schweiz können sich nicht alle gleichermassen einer bestmöglichen Gesundheit erfreuen: Personen mit wenig Bildung, tieferer berufl icher Stellung oder niedrigem Einkommen haben eine deutlich geringere Lebenserwartung. Zudem leiden sie häufi ger an gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Von ungleichen Gesundheitschancen sind insbesondere auch sozioökonomisch benachteiligte Migrantinnen und Migranten betroffen. Studien belegen, dass ihr körperlicher und psychischer Gesundheitszustand oftmals weniger gut ist als jener der Einheimischen.
Die Massnahmen des Nationalen Programms Migration und Gesundheit (2002–2017) waren hauptsächlich auf Migrantinnen und Migranten mit niederem sozialem Status, geringer Gesundheitskompetenz und den entsprechenden gesundheitlichen Problemen ausgerichtet.
Sie sind grösseren Gesundheitsrisiken ausgesetzt – beispielsweise durch körperlich belastende Arbeit oder eine psychisch belastende Migrationsgeschichte – und finden weniger leicht Zugang zu unserem Gesundheitssystem. Ihr Wissen über gesundheitsförderliches Verhalten ist oft unzureichend und es bestehen Verständigungsschwierigkeiten im Kontakt mit Gesundheitsinstitutionen.
Aus gesundheits- und integrationspolitischer Sicht ist gesundheitliche Ungleichheit dann als problematisch einzustufen, wenn Gesundheitsrisiken ganze Bevölkerungsgruppen betreffen und ein besserer Gesundheitszustand nicht allein mit einem selbstverantwortlichen gesunden Lebensstil erreicht werden kann.
Das Bundesamt für Gesundheit engagiert sich daher bereits seit Anfang der 1990er Jahre im Themenbereich Migration und Gesundheit. Die Massnahmen des Nationalen Programms Migration und Gesundheit (2002–2017) waren hauptsächlich auf Migrantinnen und Migranten mit niederem sozialem Status, geringer Gesundheitskompetenz und den entsprechenden gesundheitlichen Problemen ausgerichtet. Das Programm bezweckte aber auch, die Kompetenz der Gesundheitsfachpersonen im Umgang mit Migrantinnen und Migranten zu verbessern, und stellte ihnen hierzu Hilfsmittel zur Verfügung. Um Wissenslücken zu schliessen und gezielte Massnahmen ergreifen zu können, wurden auch Forschungsarbeiten durchgeführt.
Unterstützungsangebote für Gesundheitsfachleute
Im Rahmen des Nationalen Programms Migration und Gesundheit hat das BAG gemeinsam mit Partnerorganisationen zahlreiche Angebote entwickelt und gefördert, welche die Gesundheit besonders verletzlicher Bevölkerungsgruppen verbessern und das Gesundheitspersonal im Umgang mit Migrantinnen und Migranten unterstützen können. Zur Verfügung stehen heute zum Beispiel:
- Dolmetschende in mehr als 50 Sprachen (die bei Konsultationen persönlich anwesend sind oder via Telefondolmetschdienst beigezogen werden können);
- Gesundheitsinformationen in verschiedenen Sprachen (auf der Plattform migesplus.ch) und eine Plattform für vielsprachige Medienkooperationen (migesmedia.ch);
- eine Online-Fortbildung für Gesundheitsfachleute zum Thema Verständigung mit Migrantinnen und Migranten (E-Learning «Interaktion und Qualität »);
- Know-how des Spitalnetzwerks Swiss Hospitals for Equity (Kompetenzzentren für die Gesundheitsversorgung von Migrantinnen und Migranten);
- ein Netzwerk zur Prävention weiblicher Genitalverstümmelung;
- Forschungsergebnisse wie das zweimal durchgeführte Gesundheitsmonitoring der Migrationsbevölkerung in der Schweiz (2004 und 2010) sowie Studien zur Mutter-Kind-Gesundheit und zur gesundheitlichen Situation von Sans-Papiers.
Erfahrungen aus einigen dieser Projekte werden in dieser spectra-Ausgabe 120/Chancengleichheit beschrieben.
Neue Zielgruppen im Fokus des BAG
Das Nationale Programm Migration und Gesundheit wurde Ende 2017 abgeschlossen. Seine Hauptmassnahmen werden in die Strategien und Daueraufgaben des Bundes integriert. Die wichtigsten Aktivitäten in den Bereichen Gesundheitskompetenz und Gesundheitsinformationen werden weitergeführt (z.B. migesplus.ch; siehe diesen Beitrag zum Thema). Dasselbe gilt für die Stärkung der Kompetenz von Gesundheitsfachleuten im Umgang mit Migrantinnen und Migranten und die Förderung des interkulturellen Dolmetschens (siehe folgenden Beitrag). Das BAG wird also weiterhin seinen Beitrag zur nationalen Integrationspolitik leisten.
Das BAG hat die Zielgruppen bestimmt, die in den nächsten Jahren im Fokus stehen: insbesondere Armutsbetroffene, Asylsuchende und Personen im Freiheitsentzug.
Da gesundheitliche Unterschiede nicht nur zwischen Einheimischen und Migranten bzw. Migrantinnen bestehen, sondern vor allem auch zwischen Personen mit unterschiedlichem sozioökonomischem Hintergrund, sollen bei zukünftigen Massnahmen auch benachteiligte Einheimische miteinbezogen werden. Das BAG hat die Zielgruppen bestimmt, die in den nächsten Jahren im Fokus stehen werden: insbesondere Armutsbetroffene, Asylsuchende und Personen im Freiheitsentzug. Dies aufgrund von Einflussfaktoren, die einzeln oder kumuliert zu einer Benachteiligung im Gesundheitsbereich führen (siehe Grafik).
Diese Grafik zeigt nicht sämtliche Faktoren, die zu einer Benachteiligung und damit verbundenen Problemen im Gesundheitsbereich führen können. Sie veranschaulicht vielmehr die Schwerpunktsetzung des BAG für die nächsten Jahre. Die nicht genannten Aspekte Gender und Lebensalter sollen bei den ausgewählten Zielgruppen ebenfalls berücksichtigt werden. Die Förderung der Chancengleichheit ist eine Aufgabe, zu der heute verschiedene Stellen im BAG beitragen. Zum Beispiel im Bereich Krankenpflegeversicherung (sozialer Ausgleich via Prämienverbilligungen), im Bereich HIV/STI-Prävention sowie in den Bereichen Prävention nicht übertragbarer Krankheiten (NCD-Strategie) und psychische Gesundheit (siehe separate Beiträge in dieser spectra-Ausgabe).
Chancengleichheit ist grundsätzlich ein Aspekt, den es immer zu berücksichtigen gilt, um Gesundheitsförderung und Prävention zielführend umzusetzen und eine gute Gesundheitsversorgung für alle zu gewährleisten. Es gilt, Zielgruppen, die von ungleichen Gesundheitschancen besonders betroffen sind, zu eruieren und zu prüfen, ob sie mit bestehenden Angeboten erreicht werden können. Wenn nicht, müssen sie (in spezifischen Settings) mit leicht zugänglichen Angeboten angesprochen werden. Letztlich können dadurch auch Überversorgung, Unterversorgung oder Fehlversorgung vermindert werden.
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Kontakt
Karin Gasser / Serge Houmard, Co-Leitung Sektion Gesundheitliche Chancengleichheit, karin.gasser-GP@bag.admin.ch serge.houmard@bag.admin.ch