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“The advantages of a networked system are really obvious”

Edition No. 138
Oct. 2023
The electronic patient record

Since public debate revolves mainly around data protection, we as a society are insufficiently aware of the great potential for improvement offered by electronic patient records (EPR). However, in order to turn this potential into reality, the system needs to be opened up and provide interfaces, says medical informatics expert Serge Bignens.

Mr Bignens, how would you explain the benefits of EPRs to your parents-in-law?

I would start with a concrete example: “Imagine something were to happen to you while you are out and about, and you need an emergency operation. Your family doctor cannot be reached and you are suffering from shock. It can only be an advantage for the emergency team to be able to look in one place to find out what you’re allergic to and which medications you take regularly.” There are also less drastic examples. For example, I could also say to my mother-in-law or father-in-law: “It would be a good idea if you could collect together all the documents you receive from your doctor in a safe place, so that you can discuss them with your children.” After all, older people often feel stressed during a medical appointment, so they im- mediately forget much of what the doctor explained and recommend- ed. Their children then obtain only a small amount of the information. They are therefore unable to give their parents the best possible support. An EPR can be of real assis- tance in such a case.

«Oft stehen die Eltern während der Sprechstunde unter Stress – und vergessen deshalb einen grossen Teil der ärztlichen Erklärungen und Empfehlungen gleich wieder.»

Und wie würden Sie nach dem Anwendungsbeispiel fortfahren?

Ich würde fragen: «Wann war das letzte Mal, als die Zusammenarbeit zwischen Hausarzt, Spitex und Spital nicht wie erwartet geklappt hat?» Das kann auch eine Kleinigkeit sein, etwa eine Blutprobe, die zweimal nacheinander für den gleichen Zweck entnommen wurde. Oder die Liste der Medikamente, die veraltet oder unvollständig übermittelt wird. Wenn man sich umhört, gibt es Tausende solcher Geschichten, aber sie finden im öffentlichen Diskurs kaum Erwähnung, denn der Diskurs dreht sich fast nur um Datenschutz, um Standardisierung und um Gesetze. Doch dabei hat fast jede und jeder schon so eine schlecht koordinierte Episode erlebt, die vermeidbar gewesen wäre. Als Gesellschaft ist uns offenbar zu wenig bewusst, welch grosses Potenzial für greifbare Verbesserungen im EPD steckt.

What are the disadvantages of EPRs?

I don’t see any disadvantages in a properly set up and coordinated system. However, some people seem to regard the greater transparency that EPRs bring as a disadvantage.

In what way?

Sufficient data enables you to compare the quality of service providers, for example. These comparisons lead to losers as well as winners. Although there are no plans for quality comparisons under the current legal framework, this could change in the future. I therefore regard this concern as partially justified.

According to Serge Bignens, the EPD can help support one's parents in health matters by providing all the information at any time.

It is frequently argued that EPRs mean more work – and that data protection leads to additional costs.

In my view it is crucial to protect people’s sensitive health data properly. That’s why decentralised EPR data storage is so important. My medical information must under no circumstances influence the opportunities open to me on the labour market, or whether a credit card is issued to me. This means that each and every one of us must be able to safeguard our privacy. Having said that, we apply different standards as regards privacy in our daily lives. Many of us reveal a great deal about ourselves on social media. Basically, we always have to weigh things up when using digital services: how far do I trust the system – and what will I get in exchange?

«Für mich steht ausser Frage, dass die sensiblen Gesundheitsdaten der Bevölkerung gut geschützt sein müssen.»

Gern.

Vor drei Wochen war ich in einer Grossstadt im Ausland. Ich musste von A nach B gelangen. An der Bushaltestelle finde ich weder einen Fahrplan noch einen Billettautomaten vor, nur einen QR-Code. Ich scanne ihn ein – und werde aufgefordert, eine App herunterzuladen. Im ersten Moment frage ich mich, lohnt sich das, ich will ja nur von A nach B? Aber ich bin neugierig. Und habe deshalb schliesslich die App installiert. Sie informiert mich, dass der nächste Bus in fünf Minuten kommt. Ich habe also genügend Zeit, um ein elektronisches Ticket zu kaufen, auch wenn ich dafür in der App meine Kreditkartendaten erfassen muss. Zudem weiss die App, dass ich im Bus sehr wahrscheinlich genügend Platz finde, weil er aktuell nur 15 andere Passagiere mitführt. Und dank der App weiss ich auch, wo und wann ich wieder aussteigen muss. Auf dem Retourweg steht der Bus schon da, wir müssen uns beeilen. Aber jetzt ist alles schon bereit: Ich drücke nur einen Knopf, schon habe ich zwei gültige Tickets gekauft. Für mich war das ein Aha-Moment!

Inwiefern?

Ich habe bei meiner ersten Transaktion etwas Aufwand betreiben müssen: Ich habe ungefähr drei Minuten investiert, um mein Profil anzulegen, und mich dabei auch mit Fragen zum Datenschutz auseinandergesetzt. Doch dieser Aufwand hat sich für mich sofort bezahlt gemacht: Weil meine Geolokalisationsdaten – die ich nur während der Nutzung der App freigeschaltet habe – komplett mit dem Fahrplan und den Echtzeit-Informationen zur Belegung der Busse integriert wurden, konnte ich das ÖV-Netz so nutzen, als hätte ich schon Jahre in dieser Stadt gelebt.

Welche Lehren ziehen Sie aus dieser Anekdote für das EPD?

Natürlich ist die Thematik mit Gesundheitsdaten viel komplexer und kritischer als eine Busfahrt, trotzdem sehe ich mehrere Parallelen. Erstens: Die ÖV-App und das EPD sind Aspekte der digitalen Transformation, in der wir alle drinstecken. Wir brauchen also Aufklärung, neue Kompetenzen und ein bisschen Mut – und den Willen, uns auf etwas Neues einzulassen. Zweitens: Zu Beginn entsteht ein gewisser Mehraufwand. Aber den muss man nur ein einziges Mal betreiben, deshalb ist das kein grosses Thema. Und drittens: Dieser Aufwand lohnt sich für mich, wenn ich dafür von zusätzlichen Diensten profitieren kann. Doch dafür muss das EPD meine Gesundheitsdaten verknüpfen können: Wenn mich mein Impfdossier zum Beispiel darauf hinweist, dass ich diese oder jene Impfung auffrischen muss, weil sie abgelaufen ist, habe ich einen Mehrwert. Mich erstaunt, dass die Vorteile der Vernetzung eigentlich offensichtlich sind, aber trotzdem alle beim EPD seit Jahren hauptsächlich über das Log-in und die Zertifizierungen sprechen. Dabei hat weniger als ein Prozent der Bevölkerung ein eigenes EPD eröffnet.

Das ist wenig. An was liegt das?

Es hat damit zu tun, dass die EPD- Strategie von Anfang an thematisch mit der Managed-Care-Vorlage verknüpft war. Doch die Vorlage wurde vor elf Jahren an der Urne abgelehnt. Spätestens dann hätte man die EPD-Strategie anpassen – und mit einer neuen Vision für die integrierte oder koordinierte Versorgung verknüpfen – müssen. Leider wurde das verpasst. Deshalb stecken wir jetzt in einer politisch widersprüchlichen Situation: Die Managed-Care-Vorlage wurde abgelehnt, trotzdem wurden Millionen in das EPD investiert, das im Grunde genommen ein Kommunikationswerkzeug für die integrierte Versorgung ist. Gleichzeitig werden die Koordinationsaktivitäten aber nur unzureichend vergütet. Klar bietet eine integrierte Versorgung viele Vorteile und auch das Potenzial für erhebliche Effizienzsteigerungen, aber wenn man den Mehraufwand, der sich vor allem zu Beginn ergibt, nicht entlöhnt, klappt es nicht. Das Problem ist seit 2012 bekannt, bleibt aber ungelöst.

«Wenn mich mein Impfdossier zum Beispiel darauf hinweist, dass ich diese oder jene Impfung auffrischen muss, weil sie abgelaufen ist, habe ich einen Mehrwert.»

What do you think of the idea that EPRs need to reach a critical mass before a positive domino effect is triggered?

I opened my own EPR some time ago. Just recently I was in hospital for tests. The staff asked me questions that they could have found the answers to in my EPR. “Have you looked at my EPR?” I asked. They replied: “No, we haven’t been trained on that yet.” In fact, hospitals have been legally obliged to work with EPRs since 2017. They were given three years to introduce them, but that deadline expired over two years ago. More leadership is urgently required, both politically and from service providers.

How do you mean?

This spring I went to Estonia, where I talked to people about their widely used EPR system. It’s no doubt true that they have a different view of the role of the state. Furthermore, they didn’t start from the same position because they had no predecessor systems that needed to be taken into account. I nevertheless wanted to know more, asking: “How did you manage it?” The answer was clear: “Because certain people in key positions decided to see it through.” We lack this kind of decisiveness. It reminds me of the situation at the UN Security Council: although all the members are sitting around the same table, the joint process gets nowhere because each one has a right of veto. Having so many vetoes can bring everything to a grinding halt. A similar problem has stalled the development of EPR so that it finds itself stuck in a blind alley. Unless other services are available in addition, gathering together individual PDF documents does not offer sufficient added value.

Can you see a way forward?

At the moment, EPR is like a medieval castle that has raised all its drawbridges for safety reasons while the people inside are starving. We need to let the drawbridges down again and open up the system. Application programming interfaces (APIs) are required, so that the data stored in the EPR can be accessed from outside, generating added value. This could lead to useful services for chronically ill people in particular: an external algorithm, for example, that evaluates the data in the EPR in order to detect adverse interactions between current medications and suggest better tolerated drug combinations. I would welcome it if some of the numerous innovations in mHealth and eHealth could be brought into the strictly regulated world of the EPR.

«Wir brauchen APIs (Application Programming Interfaces), die es ermöglichen, von aussen auf die im EPD gespeicherten Daten zuzugreifen und einen Mehrwert zu generieren. Auf diese Weise könnten nützliche Dienstleistungen für Menschen mit chronischen Krankheiten entwickelt werden.»

What would this require?

A business model, regulatory and technical openness – and, above all, strong political will. At present it is not possible to connect external services to the Swiss EPR. And we are clearly not ready to invest in an upgraded public service that goes beyond operating the EPR system at a minimal level. Even the currently planned revision of the EPRA will unfortunately deliver too little, too late. It was not until this summer that information about the advantages of EPRs began to be made widely available. Yet time is marching on, and I’m worried that Switzerland won’t be able to keep up with other countries. I would be very sorry to see that happen, because I am a big fan of the EPR system with its vision and potential.

Prof. Serge Bignens

Nach seinem Ingenieurstudium an der EPFL (École polytechnique fédérale de Lausanne) und an der Carnegie Mellon University im US­-amerikanischen Pittsburgh hat Serge Bignens in den 1990er­ Jahren beim Informatikunterneh­men ELCA den Bereich eHealth aufgebaut und schweizweit gelei­tet. Im Jahr 2009 wechselte er in die Gesundheitsdirektion des Kantons Waadt, wo er die kanto­nale eHealth­-Strategie erarbeitet und umgesetzt hat. Seit 2014 ist Bignens als Dozent und seit 2016 auch als Institutsleiter der Medizin­informatik bei der Berner Fachhochschule tätig. Bignens ist zudem Gründungs­ und Vorstandsmitglied der MIDATA-­Genossenschaft – und engagiert sich im Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Medizininformatik wie auch bei der gemeinnützigen Organisation CH++ für die Stärkung der wissenschaftlichen und technologischen Kompetenzen von Politik, Behörden und Gesellschaft.

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