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«In einem Körper zu leben, an dem sich alle stören, ist hart»

Ausgabe Nr. 140
Mär. 2024
Adipositas bekämpfen

«Wenn du so weitermachst, wirst du mit 15 Jahren 100 kg wiegen.» Diese Bemerkung eines Arztes hat eine Person, die in ihrer Kindheit an Übergewicht litt, stark geprägt. Heute weiss sie: Es ist viel wichtiger, die Ursachen zu verstehen, als sich auf die Folgen zu konzentrieren. Ein Erfahrungsbericht.

«Ich hatte schon als Kind heftige Wutanfälle, die in erzwungenem Erbrechen endeten. Dieses Verhalten wirkte sich auf mein Gewicht aus und veränderte auch meine Essgewohnheiten. Von da an begann ich zuzunehmen. Angesichts dieser Situation beschlossen meine Eltern, einen Facharzt für Jugendadipositas aufzusuchen. Sie hofften, mir so zu helfen.

Traumatische Erlebnisse

Vor jedem Termin bei diesem Arzt überkam mich die Angst, dass ich wieder zugenommen haben könnte. Der Arzt sagte mir immer wieder, dass ich aufpassen müsse, sonst würde ich mit 15 Jahren 100 kg wiegen. Ich war nach diesen Arztbesuchen am Boden zerstört, was meine Essstörungen noch verschlimmerte. Trost fand ich nur im Essen.

Diese Erfahrungen haben mich traumatisiert und dazu geführt, dass ich Angst vor Arztbesuchen bekam. Erst als ich älter wurde, konnte ich meinen eigenen Arzt wählen, ermutigt durch eine Fernsehreportage, die mein Verständnis für meine Krankheit erweiterte.

Ein Teufelskreis

Seit ich denken kann, erlebe ich Diskriminierung, Belästigung und Ablehnung: in der Schule, am Arbeitsplatz, bei der Stellensuche, in Freundschafts- oder Liebesbeziehungen. Diese ständige Ausgrenzung führte lange Zeit dazu, dass ich mich unsichtbar machen wollte und mich nicht so akzeptieren konnte, wie ich bin.

Es ist wichtig, zu wissen, dass man nicht freiwillig adipös wird. Oft werden Essstörungen durch Traumata, emotionale Schocks und psychische oder physische Gewalt in der Kindheit ausgelöst. Und dann ist da vor allem unser Stoffwechsel, auf den wir keinen Einfluss haben. Manche Menschen können beispielsweise zwei Tafeln Schokolade am Tag essen, ohne dass sich dies in irgendeiner Weise auf ihr Gewicht auswirkt.

Das Problem besteht darin, dass Stigmatisierung und Diskriminierung zu einer zusätzlichen Gewichtszunahme beitragen. Diese Negativspirale hat schwerwiegende Folgen für die geistige und körperliche Gesundheit und das Selbstwertgefühl. Zudem ist es mit Übergewicht schwierig, Sport zu treiben. Und da wir Angst vor den Blicken der anderen haben, bleiben wir meist zu Hause, was wiederum zu weniger Bewegung führt.

Medikamentöse Behandlung als einzige Option

Nach unzähligen erfolglosen Diäten war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich unbedingt abnehmen musste. Eine Operation war für mich keine Option, vor allem wegen der hohen Anforderungen davor und danach. Deshalb empfahl mir der Arzt eine medikamentöse Behandlung, die zwar Nebenwirkungen hat – in meinem Fall Übelkeit und Erbrechen –, aber diese legten sich nach den ersten Monaten.

Meine Behandlung begann mit dem Einzug eines Hundewelpen, was mich dazu motivierte, mich regelmässig zu bewegen. Ich habe in anderthalb Jahren 23 kg abgenommen. Das Ziel war, ein Gewicht von unter 100 kg zu erreichen, um mich besser zu fühlen, und dieses Gewicht ohne Medikamente halten zu können.

Wertschätzung und Akzeptanz

Es ist vor allem wichtig, sich selbst lieben zu lernen. Der Umstand, dass sich eine Gesellschaft, in der das Aussehen an oberster Stelle steht, so sehr an uns stört, lässt uns glauben, dass wir nichts verdienen, nicht einmal Liebe. Dabei ist dieses Gefühl lebenswichtig. Der Weg zur Akzeptanz ist lang und steinig, aber sobald man ihn einschlägt, ist man sicher auf dem richtigen Weg.

Die Gesellschaft muss sich ändern. Wenn sie mehr Einfühlungsvermögen zeigen und besser verstehen würde, dass Adipositas eine Krankheit ist, die durch verschiedene Faktoren ausgelöst und verstärkt wird, könnten sich adipöse Menschen besser behandeln lassen, und eine gesellschaftliche Isolation liesse sich verhindern.

Ausserdem finde ich, dass wir sehr mutig sind, weil wir uns all diesen Situationen stellen. In einem Körper zu leben, an dem sich alle stören, ist hart.

Und weil es gut tut zu wissen, dass wir nicht allein sind, sind wir mit dem Verein Eurobesitas dabei, eine Gesprächsgruppe für Betroffene zu gründen. Wir wissen, dass die Macht des Wortes befreiend wirkt, und das ist ein wichtiger Schritt, um weiterzukommen.»

Kontakt

C. C., aus Vevey

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