
«Wir müssen als Gesellschaft entscheiden, welche Lebenswelt wir wollen»
Jun. 2022Bewegung
5 Fragen an Jenny Leuba, Projektleiterin bei Fussverkehr Schweiz, dem Fachverband der Fussgängerinnen und Fussgänger. Sie meint: Damit mehr Menschen zu Fuss unterwegs sein können, braucht es mehr öffentliche Räume mit Bäumen und Sitzbänken, die es den Leuten ermöglichen, sich auszuruhen und einander zu begegnen.
1 Sie setzen sich in Ihrer Arbeit für ein «bewegungsfreundliches Umfeld» ein. Was verstehen Sie darunter?
Ein Umfeld, das Lust auf Bewegung macht – und die Leute einlädt, zu Fuss zu gehen. Bei bewegungsfreundlichem Umfeld denken viele zuerst an das Velo, das in der gesellschaftlichen Debatte einen prominenten Platz belegt. Aber für das öffentliche Wohlbefinden spielt eigentlich das Gehen eine wichtigere und umfassendere Rolle, weil nur ein Teil der Bevölkerung Velo fährt, aber praktisch alle immer wieder auch zu Fuss unterwegs sind.
Hinzu kommt: Der Mangel an Bewegung wird aufgrund seiner negativen Auswirkungen auf die Gesundheit oft auch als Zigarette des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Gerade für wenig aktive Personen ist es oft einfacher, damit zu beginnen, kleine Strecken zu Fuss zurückzulegen, als sich mit dem Fahrrad fortzubewegen. Deshalb erzielen wir auch eine grössere Verbesserung der öffentlichen Gesundheit, wenn wir Menschen, die sich in ihrem Alltag sehr wenig bewegen, ermuntern, zu Fuss unterwegs zu sein.
«Gerade für wenig aktive Personen ist es oft einfacher, damit zu beginnen, kleine Strecken zu Fuss zurückzulegen, als sich mit dem Fahrrad fortzubewegen.»
2 Was braucht es, damit die Menschen mehr zu Fuss unterwegs sind?
Es kommt einerseits auf die Qualität des Umfelds an. Wenn ich zum Beispiel vom Bahnhof in Bern zum Inselspital gehe, wird mir schnell langweilig. Die Strecke ist eintönig. Und nicht sehr angenehm, weil ich dem Lärm ausgesetzt bin, den die vielen Autos dort machen. Aber wenn ich vom Bahnhof in die andere Richtung zum Bärengraben spaziere, durchquere ich eine sehr abwechslungsreiche Strecke mit vielen Schaufenstern und anderen Menschen auf der Strasse. Die Zeit vergeht wie im Flug.
Andererseits hängt die Bewegungsfreundlichkeit des Umfelds auch davon ab, ob es genügend Orte zum Verschnaufen gibt. Insbesondere die ältere Bevölkerung ist entlang ihrer Wege auf Sitzbänke angewiesen, also darauf, unterwegs auch mal Pausen machen zu können.
«Auf dem Land ist die Natur näher als in der Stadt, dafür dienen Sitzbänke in öffentlichen Räumen in den Dörfern oft auch als Orte des sozialen Austauschs.»
3 Sie wollen mehr Ruheplätze, damit sich die Menschen mehr bewegen? Das tönt widersprüchlich.
Ja, das erscheint paradox. Es gibt zwei Arten, wie Städte mit dem Fussverkehr umgehen. Einige verbinden ihn mit Mobilität und Fortbewegung – und konzentrieren sich auf kurze Verbindungen und einen möglichst effizienten Durchfluss. Das ist sehr funktional gedacht. Aber es lässt ausser Acht, dass Fussgängerinnen und Fussgänger viel stärker mit ihrem Umfeld interagieren als Menschen im Auto. Zu Fuss entdeckt man unterwegs vielleicht ein neues Geschäft oder begegnet zufällig Bekanntschaften, die man lange nicht mehr gesehen hat.
Andere Städte verbinden den Fussverkehr deshalb mit ihren öffentlichen Räumen, wo es Bänke und Bäume hat. Und also auch Platz, um innezuhalten. Solche öffentlichen Räume braucht es nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land. Eigentlich geht es um das genau Gleiche, allerdings mit einem anderen Fokus: In der Stadt stehen vielleicht mehr entspannende Grünzonen im Vordergrund. Auf dem Land ist die Natur näher, dafür dienen Sitzbänke in öffentlichen Räumen in den Dörfern oft auch als Orte des sozialen Austauschs.
4 Wo liegen die grössten Hindernisse in der Realisierung einer bewegungsfreundlichen Umwelt?
Im städtischen Umfeld gibt es ein Problem mit dem Platz, der zurückgewonnen werden muss: Mehr öffentliche Räume bedeuten weniger Abstellplätze für Autos. Dass die Stadt dabei aufgewertet wird, ist immer erst im Nachhinein offensichtlich. Stellen Sie sich zum Beispiel den Bundesplatz in Bern immer noch als Parkplatz vor! Doch in zahlreichen kleineren Städten der Schweiz sind immer noch zentrale Plätze mit Autos gefüllt. Und wer daraus erholsame öffentliche Räume machen will, braucht grossen politischen Mut.
«Mehr öffentliche Räume bedeuten weniger Abstellplätze für Autos. Dass die Stadt dabei aufgewertet wird, ist immer erst im Nachhinein offensichtlich. Stellen Sie sich zum Beispiel den Bundesplatz in Bern immer noch als Parkplatz vor!»
5 Spielen auch finanzielle Argumente eine Rolle?
Wenn man – etwa beim Bau neuer Wohngebiete – schon von Anfang an bewegungsfördernde Elemente einplant, verteuern sich die Baukosten um weniger als ein Prozent. Das ist gut investiertes Geld, wenn man an die Gesundheitskosten denkt, die sich damit einsparen lassen. Wenn man erst später hinzubaut, wird es teurer. Aber auch hier relativieren sich die Kosten, wenn man bedenkt, dass es für den Bau von nur einem Kilometer Autobahn etwa 80 Millionen Franken braucht. Aus meiner Sicht ist es keine Frage des Geldes, sondern eine der Prioritätensetzung. Wir müssen als Gesellschaft entscheiden, welche Lebenswelt wir wollen.