Sprunglinks

zurück

«Die Schweiz muss zur Debatte beitragen, die ermöglicht, Alternativen zum Verbot von Drogen zu finden und eine Revision der internationalen Übereinkommen über die Suchtmittel voranzutreiben.»

Ausgabe Nr. 89
Nov. 2011
Internationales

Interview Ruth Dreifuss. Die frühere Bundesrätin und Gesundheitsministerin Ruth Dreifuss spricht im spectra-Interview über ihr Engagement in der «Global Commission on Drug Policy», in der sie sich für eine ausgewogene Drogenpolitik einsetzt. Sie fordert die globale Verankerung des Vier-Säulen-Modells und die kreative Suche nach Alternativen zum einseitigen «Krieg gegen Drogen», der in vielen Regionen der Welt ein wahres Schlachtfeld anrichtet und die Probleme in keiner Weise zu lösen vermag. Die Schweizer Suchtpolitik im Bereich Drogen und Tabak sieht Dreifuss als beispielhaft, und sie wünscht sich, dass dieser pragmatische Weg auch die internationale Politik günstig beeinflusst.

spectra: Frau Dreifuss, welches sind aktuell national und international die grössten Herausforderungen in der Drogen- und Suchtpolitik?

Ruth Dreifuss: Weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene hat die Vier-Säulen-Politik ein befriedigendes Gleichgewicht erreicht. Zwar ist es der Schweiz und manchen europäischen Ländern gelungen, den Problemen des Gesundheitswesens im Zusammenhang mit der Drogenabhängigkeit einiges an Gewicht zu verleihen, aber es herrscht nach wie vor eine offenkundige Unausgewogenheit zwischen den gewaltigen Mitteln, die für die Repression eingesetzt werden, und den sehr viel bescheideneren, welche für Prävention, Behandlung und Schadensminderung zur Verfügung stehen. Ausserdem hat die Prohibition kriminellen Organisationen erlaubt, den Drogenhandel zu beherrschen, in dem sie die drogenabhängigen Menschen dem brutalen Gewinnstreben ausliefert und ganze Regionen in einen blutigen und sinnlosen Krieg gegen die Drogen drängt.

Was kann aus Ihrer Sicht der Beitrag der Schweiz sein, um die internationale Drogenpolitik weiterzuentwickeln?

Die Schweiz zählt zu den Pionierinnen in der Behandlung der Drogenabhängigkeit und der Risikoprävention. Aus der Stärke dieser Erfahrung kann sie Ländern helfen, die sich bemühen, innovative Therapien und medizinisch-soziale Programme zu schaffen, die geeignet sind, die vulnerabelsten Personen zu erreichen. Ich sehe dort eine gemeinsame Aufgabe für das Bundesamt für Gesundheit, die Direktion für Entwicklungszusammenarbeit, nichtstaatliche Organisationen und wissenschaftliche Experten.

«Es herrscht nach wie vor eine offenkundige Unausgewogenheit zwischen den gewaltigen Mitteln, die für die Repression eingesetzt werden, und den sehr viel bescheideneren, welche für Prävention, Behandlung und Schadensminderung zur Verfügung stehen.»

Auf internationaler Ebene muss die Schweiz zusammen mit anderen Ländern aktiv werden, damit die Vereinten Nationen eine kohärentere Politik in diesem Bereich entwickeln. Eine Politik, die den Fragen der öffentlichen Gesundheit und der nachhaltigen (wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen) Entwicklung der Mohn, Coca und Cannabis anbauenden Regionen Priorität einräumt. Die Schweiz muss zur Debatte beitragen, die es ermöglicht, Alternativen zum Verbot von Drogen zu finden und eine Revision der internationalen Übereinkommen über die Suchtmittel voranzutreiben.

Wie ist die «Global Commission on Drug Policy» entstanden?

Lateinamerika steht an vorderster Front beim Krieg gegen die Drogen, den Präsident Nixon vor genau 40 Jahren ausgerufen hat. Das Resultat dieses Krieges ist ein Schlachtfeld. Bauern werden in den Ruin getrieben, es entstehen mächtige verbrecherische Kartelle und die Staaten werden geschwächt. Drei ehemalige lateinamerikanische Staatspräsidenten, unterstützt von Intellektuellen und verschiedenen Experten, haben vor drei Jahren zu einer neuen Drogenpolitik aufgerufen. Dieser Aufruf war der Kristallisationspunkt für die Bildung der Kommission.

Welches waren die Motive für die Gründung?

Die menschlichen Kosten des Krieges gegen die Drogen, seine Wirkungslosigkeit und die Hindernisse, die er für die Entwicklung einer Präventions- und Gesundheitspolitik darstellt, mobilisierten das Verantwortungsgefühl der Bürgerinnen und Bürger, die sich in der Kommission zusammengeschlossen haben.

Welche Ziele verfolgt die Kommission und mit welchen Massnahmen will sie diese erreichen?

Ihr erstes Ziel besteht darin, das Tabu zu brechen, eine Debatte über Alternativen zu einer Politik zu führen, die gescheitert ist. Sowohl die Produktion als auch der illegale Handel und der Drogenkonsum sind im Laufe der vergangenen Jahrzehnte gestiegen. Die Kommission hat also zuerst einen Bericht verfasst, der im Juni 2011 veröffentlicht wurde. Sie will Regierungen und Nichtregierungsorganisationen unterstützen, die neue Programme für die öffentliche Gesundheit oder zur Regulierung der Drogenmärkte entwickeln wollen. Sie pflegt den Dialog mit den Vereinten Nationen und ihren spezialisierten Organisationen, um die Kohärenz und die Wirksamkeit der internationalen Zusammenarbeit in diesem Bereich zu verbessern.

Wer steht hinter der Kommission? Können Sie ein paar Namen nennen?

Der Kommission liegen Initiativen von verschiedenen Persönlichkeiten zugrunde, die eine politische oder intellektuelle Verantwortung innehatten oder innehaben. Sie alle wurden mobilisiert durch die Dringlichkeit, vernünftigere und menschlichere Lösungen der Drogenprobleme zu finden. Der frühere brasilianische Präsident Fernando Henrique Cardoso sitzt dem Ausschuss vor. Zu seinen Mitgliedern gehören zum Beispiel der ehemalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan und die ehemalige Hochkommissarin für Menschenrechte Louise Arbour.

Es finden sich viele süd- und mittelamerikanische Exponenten in der Kommission. Haben Sie auch Kontakte zu afrikanischen oder asiatischen Persönlichkeiten?

Es ist wahr, dass die Mitglieder vorwiegend aus Amerika und Europa stammen, denn in diesen zwei Weltregionen ist die Bewusstseinsbildung am weitesten vorgerückt und die öffentliche Debatte am offensten. Aber seit der Veröffentlichung ihres Berichtes ist die Kommission von Persönlichkeiten, Regierungen und Nichtregierungsorganisationen aus Afrika und Asien angegangen worden, um ihre Unterstützung für Projekte zur Risikoverminderung und zur Regulierung des Marktes zu erlangen.

 «Dank der Prohibition sind Produktion und Drogen­handel höchst lukrativ.»

Zu den mittelfristigen Prioritäten der Kommission gehören insbesondere die Verletzungen der Menschenrechte in Asien durch die Todesstrafe und die «Behandlungen» in Arbeitslagern sowie die Lage in Westafrika, das eine Drehscheibe des Drogenhandels zwischen Lateinamerika und Europa geworden ist und mit einer Explosion des Drogenkonsums und der HIV/Aids-Infektionen konfrontiert ist.

Will man eine globale Änderung der Drogenpolitik bewirken, wird man auch die Unterstützung von arabischen, afrikanischen und asiatischen Staaten suchen müssen. Ist das ein Ziel der Kommission? Hat sie diesbezügliche Kontakte?

Seit der Erscheinung des Berichtes hat die Kommission Anfragen aus Ländern erhalten, von denen wir nicht erwartet hatten, dass der Wille besteht, eine Debatte über die Drogenpolitik zu führen. Netze sind dabei, sich zu bilden, und mehr und mehr Regierungen fragen sich, wie sie wirksam handeln können.

Welche Hypothesen hat die Kommission zu den Gründen der drei Grossmächte Russland, China und USA, jede Diskussion über die Revision der Übereinkommen zu blockieren?

Die Kommission hat keine Hypothesen aufgestellt. Sie stellt aber fest, dass diese Länder den Ton angeben und dass ihre nationale Politik wenig Platz für niederschwellige Therapien oder Massnahmen zur Schadensminderung lässt. Ihre Gefängnisse und Strafanstalten werden zu einem guten Teil von Personen bevölkert, die wegen Drogenkonsums oder für Vergehen ohne Gewalt im Zusammenhang mit ihrer Drogenabhängigkeit verurteilt wurden.

Wie arbeitet und finanziert sich die Kommission?

Die Kommission hat mehrere Sitzungen und Debatten durchgeführt, um ihren Bericht abzuschliessen. Sie hat Arbeitsgruppen für ein regionales oder sektorielles Konzept eingesetzt und stützt sich in all ihren Aktivitäten auf anerkannte Experten. Die Kommission wird durch mehrere Stiftungen finanziert.

Was empfiehlt die Kommission der Schweiz für ihre Drogen- und Suchtpolitik?

Die Erfahrung der Schweiz bezüglich innovativer Behandlungsformen und Schadensminderung wird anerkannt und dient der Kommission als gutes Beispiel. In der Erforschung von Alternativen zur Bestrafung von Drogenkonsumierenden begeht momentan Portugal einen vielversprechenden Weg.

«Zum Krieg gegen die Drogen kamen der Krieg gegen den Terrorismus und der Krieg schlechthin dazu, insbesondere in Afghanistan.»

Dieses Beispiel sowie die Vorschläge der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen, mit den verschiedenen Problemen umzugehen, zeigen Möglichkeiten auf, die zu verwirklichen sich lohnen würde.

Die Entwicklung der heutigen Drogenpolitik ist aufgrund der starken Zunahme von Opiatabhängigkeit in den 80er-Jahren entstanden. Wie ist diese Politik den heutigen Sucht- und Drogenproblemen gewachsen? Wie sollte sie in Zukunft aussehen?

Heute geht es darum, in einer kohärenten Politik die Gesamtheit der Probleme anzugehen, die mit der Abhängigkeit zusammenhängen. Fokussiert man spezifische Substanzen, ist man dazu verurteilt, unaufhörlich hinter neuen Substanzen herzulaufen. Natürlich müssen wir jede einzelne untersuchen, um in jedem Fall die passenden Therapien entwickeln zu können. Aber die Unterscheidung von legalen und illegalen Substanzen macht eine wirkungsvolle Bekämpfung der Abhängigkeit wesentlich schwieriger.

Welches sind Impulse aus dem Ausland, welche die schweizerische Drogen- und Suchtpolitik bereichern können?

Da ist zum einen Portugal, das darauf verzichtet hat, Drogen konsumierende Personen zu kriminalisieren. Zum anderen gibt es einige Staaten der USA, die den medizinischen Einsatz von Cannabis zulassen, und andere, die beabsichtigen, den Markt dieser Substanz zu regulieren.

Wie ist damit umzugehen, dass in vielen Ländern die repressive Seite tendenziell gestärkt wird?

Dank der Prohibition sind Produktion und Drogenhandel höchst lukrativ. Sie treibt nicht nur die organisierte Kriminalität, sondern auch den Terrorismus und Bürgerkriege voran. Zum Krieg gegen die Drogen kamen der Krieg gegen den Terrorismus und der Krieg schlechthin dazu, insbesondere in Afghanistan.

«Die mafiaartigen Organi­sationen agieren global
und lachen bloss über  Grenzen.»

All diese Kriege haben verheerende Auswirkungen auf die Menschenrechte. Ignoriert werden dabei vor allem die sozialen und gesundheitlichen Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerungen. In diesem Sinn steht die Verhärtung in Sachen Drogenrepression in einem Zusammenhang mit der veränderten Sicherheitslage, mit der sich die Welt seit den Attentaten des 11. September 2001 konfrontiert sieht.

Die Entwicklung der Konvention von 1961 ist aufgrund der starken Zunahme von Opiatabhängigkeit dieser Zeit entstanden. Ist sie den heutigen Umständen noch gewachsen?

Zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens ist die Zusammenarbeit aller Staaten unabdingbar, denn die mafiaartigen Organisationen agieren global und lachen bloss über Grenzen. Ich anerkenne den Nutzen von Massnahmen gegen Geldwäscherei und der Kontrolle der Produktion und Ein- und Ausfuhr von Basissubstanzen und Suchtmitteln, die zu legalen, medizinischen Zwecken benutzt werden. Die sture und undifferenzierte Prohibition einer Liste von Substanzen hingegen verursacht einen unermesslichen Schwarzmarkt und bringt zahlreiche Opfer um die für sie notwendige Pflege.

Welche Bestandteile der Konvention sind problematisch, um sich den neuen Herausforderungen in der aktuellen Weltdrogenproblematik stellen zu können?

Das öffentliche Gesundheitswesen wird zwar in der Konvention aufgeführt, bekommt aber bei der Umsetzung nicht die entsprechende Priorität. Indem sie die Suche nach Alternativen zur Prohibition verhindert, blockiert sie die Entwicklung der nationalen Politiken in Richtung wirksamerer Regulierungssysteme.

Welche Chancen bestehen, dass die Konvention unter den gegebenen Umständen verändert wird? Sehen Sie einen Zeithorizont?

Momentan widersetzen sich die drei Grossmächte USA, Russland und China jedem Vorschlag einer Revision der Konvention. Aber die Zahl der Staaten, die mehr Freiheit wünschen, um nach innovativen Lösungen zu suchen, indem sie eng in der Bekämpfung des organisierten Verbrechens zusammenarbeiten, steigt laufend. Die Länder, die zurzeit jede Öffnung blockieren, haben immer mehr Probleme mit Überbelegungen in den Gefängnissen oder mit der HIV/Aids-Epidemie. Bleibt zu hoffen, dass – wie es die Kommission wünscht – das Tabu bald gebrochen wird.

Sie werden immer wieder von interessanten Stiftungen und Gremien aus den verschiedensten Bereichen um Mitwirkung gebeten. Doch Sie engagieren sich nach wie vor für die Drogenpolitik. Weshalb?

Ich engagiere mich weiterhin in verschiedenen Gebieten, zum Beispiel für die Abschaffung der Todesstrafe oder für den Zugang zu Arzneimitteln für die Bevölkerungen der Dritten Welt. Was die Drogenpolitik betrifft, werde ich konsultiert wegen des Interesses, das die pragmatische Politik der Schweiz hervorruft.

«Die Länder, die zurzeit jede Öffnung blockieren, haben immer mehr Probleme mit Überbelegungen in den Gefängnissen oder mit der HIV/Aids-Epidemie.»

Da ich das Glück hatte, dafür während zehn Jahren die Verantwortung zu übernehmen, ist es normal, dass ich diese Erfahrung teile. Zahlreiche andere Länder und Regionen der Welt sind mit sehr viel dramatischeren Situationen konfrontiert als jene, die die Schweiz gekannt hat. Denken wir nur an die Probleme von Marginalisierung und Verletzung der Menschenrechte drogenabhängiger Personen, fehlende Pflege und die Gefahr einer Ansteckung mit Aids für die gesamte Bevölkerung oder an Gewalt und Korruption.

Unsere Gesprächspartnerin

Die studierte Wirtschaftswissenschaftlerin Ruth Dreifuss (geboren 1940) war von 1972 bis 1981 für die Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe (heute DEZA) tätig. 1981 wurde sie Zentralsekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes.
Die Vereinigte Bundesversammlung wählte Ruth Dreifuss am 10. März 1993 zur Bundesrätin.
Ihrer Wahl ging die Nichtwahl der offiziellen Kandidatin Christiane Brunner und ein heftiger Frauenprotest gegen die Wahl von Francis Matthey voraus (Brunner-Effekt). Vom 1. April 1993 bis 31. Dezember 2002 stand sie dem Eidgenössischen Departement des Innern vor und war als Gesundheitsministerin auch oberste Chefin des Bundsamts für Gesundheit. Ruth Dreifuss war nach Elisabeth Kopp die zweite Frau und die erste Person mit jüdischem Hintergrund, die in den Bundesrat gewählt wurde. Sie war 1999 die erste Frau, die zur Bundespräsidentin gewählt wurde.
Ruth Dreifuss lebt in Genf. Sie engagiert sich heute in der Global Commission on Drug Policy. Mehr dazu unter:
www.globalcommissiondrugs.org

Nach oben