
«Eigentlich sind die Vorteile der Vernetzung offensichtlich»
Okt. 2023Elektronisches Patientendossier
Weil sich der öffentliche Diskurs vor allem um Datenschutz dreht, ist uns als Gesellschaft zu wenig bewusst, welch grosses Verbesserungspotenzial im elektronischen Patientendossier (EPD) steckt. Doch um dieses Potenzial zu verwirklichen, müsse man das System öffnen und Schnittstellen anbieten, meint der Experte für Medizininformatik Serge Bignens.
Herr Bignens, wie würden Sie Ihren Schwiegereltern die Vorteile des EPD erklären?
Ich würde mit einer konkreten Anwendung beginnen: «Stell dir vor, unterwegs passiert dir etwas und du musst notfallmässig operiert werden. Dein Hausarzt ist nicht erreichbar, und du stehst unter Schock. Da kann es nur von Vorteil sein, wenn das Notfallteam irgendwo nachschauen kann, gegen was du allergisch bist und welche Medikamente du regelmässig einnimmst.» Es gibt auch weniger drastische Anwendungsbeispiele. Ich könnte meiner Schwiegermutter oder meinem Schwiegervater zum Beispiel auch sagen: «Es wäre gut, wenn du alle Dokumente, die du vom Arzt bekommst, an einem sicheren Platz sammeln kannst, um sie mit deinen Kindern besprechen zu können.» Denn oft stehen die Eltern während der Sprechstunde unter Stress – und vergessen deshalb einen grossen Teil der ärztlichen Erklärungen und Empfehlungen gleich wieder. Dadurch erhalten die Kinder nur einen kleinen Teil der Informationen. Sie können deshalb ihre Eltern nicht optimal unterstützen. Hier kann das EPD eine wichtige Hilfe leisten.
«Oft stehen die Eltern während der Sprechstunde unter Stress – und vergessen deshalb einen grossen Teil der ärztlichen Erklärungen und Empfehlungen gleich wieder.»
Und wie würden Sie nach dem Anwendungsbeispiel fortfahren?
Ich würde fragen: «Wann war das letzte Mal, als die Zusammenarbeit zwischen Hausarzt, Spitex und Spital nicht wie erwartet geklappt hat?» Das kann auch eine Kleinigkeit sein, etwa eine Blutprobe, die zweimal nacheinander für den gleichen Zweck entnommen wurde. Oder die Liste der Medikamente, die veraltet oder unvollständig übermittelt wird. Wenn man sich umhört, gibt es Tausende solcher Geschichten, aber sie finden im öffentlichen Diskurs kaum Erwähnung, denn der Diskurs dreht sich fast nur um Datenschutz, um Standardisierung und um Gesetze. Doch dabei hat fast jede und jeder schon so eine schlecht koordinierte Episode erlebt, die vermeidbar gewesen wäre. Als Gesellschaft ist uns offenbar zu wenig bewusst, welch grosses Potenzial für greifbare Verbesserungen im EPD steckt.
Wo liegen die Nachteile des EPD?
Bei einem gut umgesetzten und koordinierten System sehe ich keine Nachteile. Doch einige Akteure scheinen die Transparenz, die durch das EPD erhöht wird, als Nachteil zu betrachten.
Wie bitte?
Mit genügend Daten kann man zum Beispiel die Qualität unter den Leistungserbringern vergleichen. Solche Vergleiche ergeben nicht nur Gewinner, sondern immer auch Verlierer. Im heutigen gesetzlichen Rahmen sind zwar keine Qualitätsvergleiche vorgesehen, doch das könnte sich in Zukunft ändern. Deshalb finde ich diese Bedenken zum Teil legitim.

Laut Serge Bignens kann das EPD dabei helfen, die eigenen Eltern in Gesundheitsfragen zu unterstützen, indem es jederzeit alle Informationen bereitstellt.
Ein oft vorgebrachtes Argument lautet, dass das EPD einen Zusatzaufwand bedeutet – und der Datenschutz Mehrkosten verursacht.
Für mich steht ausser Frage, dass die sensiblen Gesundheitsdaten der Bevölkerung gut geschützt sein müssen. Deswegen ist die dezentrale Datenspeicherung beim EPD so wichtig. Meine Gesundheitsdaten dürfen auf keinen Fall beeinflussen, welche Chancen ich auf dem Arbeitsmarkt habe oder ob mir eine Kreditkarte ausgestellt wird. Das heisst: Jede und jeder von uns muss die eigene Privatsphäre schützen können. Allerdings wenden wir im Alltag unterschiedliche Massstäbe bei der Privatsphäre an. Viele von uns legen auf Social Media sehr viel von sich offen. Im Grunde genommen handelt es sich bei der Nutzung von digitalen Diensten immer um eine Abwägung: Wie viel Vertrauen schenke ich dem System – und was kriege ich dafür? Ich kann Ihnen dazu eine Anekdote ausserhalb des Gesundheitsbereichs erzählen.
«Für mich steht ausser Frage, dass die sensiblen Gesundheitsdaten der Bevölkerung gut geschützt sein müssen.»
Gern.
Vor drei Wochen war ich in einer Grossstadt im Ausland. Ich musste von A nach B gelangen. An der Bushaltestelle finde ich weder einen Fahrplan noch einen Billettautomaten vor, nur einen QR-Code. Ich scanne ihn ein – und werde aufgefordert, eine App herunterzuladen. Im ersten Moment frage ich mich, lohnt sich das, ich will ja nur von A nach B? Aber ich bin neugierig. Und habe deshalb schliesslich die App installiert. Sie informiert mich, dass der nächste Bus in fünf Minuten kommt. Ich habe also genügend Zeit, um ein elektronisches Ticket zu kaufen, auch wenn ich dafür in der App meine Kreditkartendaten erfassen muss. Zudem weiss die App, dass ich im Bus sehr wahrscheinlich genügend Platz finde, weil er aktuell nur 15 andere Passagiere mitführt. Und dank der App weiss ich auch, wo und wann ich wieder aussteigen muss. Auf dem Retourweg steht der Bus schon da, wir müssen uns beeilen. Aber jetzt ist alles schon bereit: Ich drücke nur einen Knopf, schon habe ich zwei gültige Tickets gekauft. Für mich war das ein Aha-Moment!
Inwiefern?
Ich habe bei meiner ersten Transaktion etwas Aufwand betreiben müssen: Ich habe ungefähr drei Minuten investiert, um mein Profil anzulegen, und mich dabei auch mit Fragen zum Datenschutz auseinandergesetzt. Doch dieser Aufwand hat sich für mich sofort bezahlt gemacht: Weil meine Geolokalisationsdaten – die ich nur während der Nutzung der App freigeschaltet habe – komplett mit dem Fahrplan und den Echtzeit-Informationen zur Belegung der Busse integriert wurden, konnte ich das ÖV-Netz so nutzen, als hätte ich schon Jahre in dieser Stadt gelebt.
Welche Lehren ziehen Sie aus dieser Anekdote für das EPD?
Natürlich ist die Thematik mit Gesundheitsdaten viel komplexer und kritischer als eine Busfahrt, trotzdem sehe ich mehrere Parallelen. Erstens: Die ÖV-App und das EPD sind Aspekte der digitalen Transformation, in der wir alle drinstecken. Wir brauchen also Aufklärung, neue Kompetenzen und ein bisschen Mut – und den Willen, uns auf etwas Neues einzulassen. Zweitens: Zu Beginn entsteht ein gewisser Mehraufwand. Aber den muss man nur ein einziges Mal betreiben, deshalb ist das kein grosses Thema. Und drittens: Dieser Aufwand lohnt sich für mich, wenn ich dafür von zusätzlichen Diensten profitieren kann. Doch dafür muss das EPD meine Gesundheitsdaten verknüpfen können: Wenn mich mein Impfdossier zum Beispiel darauf hinweist, dass ich diese oder jene Impfung auffrischen muss, weil sie abgelaufen ist, habe ich einen Mehrwert. Mich erstaunt, dass die Vorteile der Vernetzung eigentlich offensichtlich sind, aber trotzdem alle beim EPD seit Jahren hauptsächlich über das Log-in und die Zertifizierungen sprechen. Dabei hat weniger als ein Prozent der Bevölkerung ein eigenes EPD eröffnet.
Das ist wenig. An was liegt das?
Es hat damit zu tun, dass die EPD- Strategie von Anfang an thematisch mit der Managed-Care-Vorlage verknüpft war. Doch die Vorlage wurde vor elf Jahren an der Urne abgelehnt. Spätestens dann hätte man die EPD-Strategie anpassen – und mit einer neuen Vision für die integrierte oder koordinierte Versorgung verknüpfen – müssen. Leider wurde das verpasst. Deshalb stecken wir jetzt in einer politisch widersprüchlichen Situation: Die Managed-Care-Vorlage wurde abgelehnt, trotzdem wurden Millionen in das EPD investiert, das im Grunde genommen ein Kommunikationswerkzeug für die integrierte Versorgung ist. Gleichzeitig werden die Koordinationsaktivitäten aber nur unzureichend vergütet. Klar bietet eine integrierte Versorgung viele Vorteile und auch das Potenzial für erhebliche Effizienzsteigerungen, aber wenn man den Mehraufwand, der sich vor allem zu Beginn ergibt, nicht entlöhnt, klappt es nicht. Das Problem ist seit 2012 bekannt, bleibt aber ungelöst.
«Wenn mich mein Impfdossier zum Beispiel darauf hinweist, dass ich diese oder jene Impfung auffrischen muss, weil sie abgelaufen ist, habe ich einen Mehrwert.»
Was meinen Sie zur Idee, dass das EPD eine kritische Grösse erreichen muss, damit sich ein positiver Dominoeffekt ergeben kann?
Mein EPD habe ich schon vor einiger Zeit eröffnet. Kürzlich war ich im Spital zur Kontrolle. Dort hat mir das Personal Fragen gestellt, auf die es in meinem EPD Antworten gefunden hätte. «Habt ihr mein EPD konsultiert?», fragte ich. Als Antwort kam: «Nein, wir haben die Schulung noch nicht gemacht.» Eigentlich sind die Spitäler seit 2017 gesetzlich verpflichtet, mit dem EPD zu arbeiten. Sie hatten eine Einführungsfrist von drei Jahren, aber auch die ist schon seit mehr als zwei Jahren abgelaufen. Es braucht unbedingt mehr Leadership, sowohl auf der politischen Ebene wie auch bei den Leistungserbringern.
Wie meinen Sie das?
Ich war diesen Frühling in Estland und habe mich dort mit den Leuten über ihr breit genutztes EPD unterhalten. Klar, sie haben ein anderes Staatsverständnis. Und auch nicht die gleiche Ausgangslage, weil sie keine Vorgängersysteme hatten, die sie berücksichtigen mussten, aber trotzdem wollte ich wissen: «Wie habt ihr das geschafft?» Die Antwort war deutlich: «Weil einige Personen in Schlüsselpositionen beschlossen haben: Wir ziehen das durch.» Uns fehlt diese Entschlusskraft. Mich erinnert die Situation an den UNO-Sicherheitsrat: Es sitzen zwar alle Akteure vereint an einem Tisch, aber weil jeder ein Vetorecht hat, kommt der gemeinsame Prozess nicht voran. Die vielen Vetorechte wirken wie Sand im Getriebe. Sie haben die Entwicklung zum Erliegen gebracht und das EPD in eine Sackgasse manövriert: Ohne weitere Dienste bietet die Ansammlung von einzelnen PDF Dokumenten nicht genügend Mehrwert.
Sehen Sie einen Ausweg?
Im Moment ist das EPD wie eine Burg aus dem Mittelalter, die aus Sicherheitsgründen alle Zugbrücken hochgezogen hat: Die Leute in der Burg verhungern. Es gilt, die Zugbrücken herunterzulassen – und das System zu öffnen: Es braucht Schnittstellen, sogenannte Application Programming Interfaces, kurz API, damit man von aussen auf die im EPD gespeicherten Daten zugreifen und einen Mehrwert generieren kann. Dann könnten insbesondere für chronisch kranke Menschen nützliche Dienste entstehen. Zum Beispiel ein externer Algorithmus, der die Daten im EPD auswertet, um ungünstige Interaktionen zwischen den eingenommenen Medikamenten aufzudecken – und besser verträgliche Heilmittelkombinationen vorzuschlagen. Ich würde es begrüssen, wenn einige der zahlreichen Innovationen aus den mHealth- und eHealth-Bereichen mit der stark regulierten Welt des EPD zusammenkommen könnten.
«Wir brauchen APIs (Application Programming Interfaces), die es ermöglichen, von aussen auf die im EPD gespeicherten Daten zuzugreifen und einen Mehrwert zu generieren. Auf diese Weise könnten nützliche Dienstleistungen für Menschen mit chronischen Krankheiten entwickelt werden.»
Was braucht es dazu?
Ein Business-Modell, regulatorische und technische Offenheit – und vor allem einen starken politischen Willen. Derzeit ist es im Schweizer EPD nicht möglich, externe Dienste anzuknüpfen. Und wir sind offenbar auch nicht bereit, in einen ausgebauten Service Public zu investieren, der über den minimalen Betrieb des EPD hinausgeht. Daran ändert sich auch mit der laufenden Gesetzesrevision leider zu wenig und zu spät. Erst diesen Sommer hat man begonnen, breit über den Nutzen des EPD zu informieren. Doch die Zeit läuft uns davon: Ich mache mir Sorgen um die Schweiz, da ich befürchte, dass wir international nicht mithalten können. Das würde ich sehr bedauern, denn ich bin ein grosser Fan des EPD, von seiner Vision und seinem Potenzial.
Prof. Serge Bignens
Nach seinem Ingenieurstudium an der EPFL (École polytechnique fédérale de Lausanne) und an der Carnegie Mellon University im US-amerikanischen Pittsburgh hat Serge Bignens in den 1990er Jahren beim Informatikunternehmen ELCA den Bereich eHealth aufgebaut und schweizweit geleitet. Im Jahr 2009 wechselte er in die Gesundheitsdirektion des Kantons Waadt, wo er die kantonale eHealth-Strategie erarbeitet und umgesetzt hat. Seit 2014 ist Bignens als Dozent und seit 2016 auch als Institutsleiter der Medizininformatik bei der Berner Fachhochschule tätig. Bignens ist zudem Gründungs und Vorstandsmitglied der MIDATA-Genossenschaft – und engagiert sich im Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Medizininformatik wie auch bei der gemeinnützigen Organisation CH++ für die Stärkung der wissenschaftlichen und technologischen Kompetenzen von Politik, Behörden und Gesellschaft.