Häusliche Gewalt und Menschen mit Behinderungen: Datenlücken schliessen und Zugang zu Angeboten verbessern
Jun. 2024Häusliche Gewalt – erkennen, ansprechen, handeln
Auch Menschen mit Behinderungen sind von häuslicher Gewalt betroffen. Bislang gibt es jedoch kaum verlässliche Zahlen dazu. Studien zeigen, dass Hilfsangebote für gewaltbetroffene Menschen mit Behinderungen zu wenig zugänglich sind. In einem Bericht zeigt der Bundesrat nun auf, wie er Menschen mit Behinderungen besser schützen will.
Fiktives Beispiel: Sandra lebt in einem Wohnheim. Seit ihr neuer Mitbewohner Robert eingezogen ist, wird sie fast täglich von ihm beschimpft und manchmal gegen die Wand geschubst. Sie fühlt sich nicht wohl, traut sich aber nicht, die Betreuenden zu alarmieren – auch aus Angst vor Roberts Reaktion. Und sie weiss nicht, dass es Stellen gibt, an die sie sich wenden kann.
Lückenhafte Datenlage
So wie Sandra geht es wohl auch anderen Menschen mit Behinderung in der Schweiz, die von Gewalt betroffen sind. Allerdings ist die Datenlage dazu dünn. «Behinderung» als Merkmal wird in amtlichen Statistiken oft nicht erfasst, auch weil es keine einheitliche Definition gibt oder die Stichproben zu klein sind. Zudem gehört die Angabe zur Behinderung einer Person zu den besonders schützenswerten Daten. Auswertungen mit solchen Daten können deshalb heikel sein. Eine neuere Studie im Auftrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) zeigt nun erstmals, dass «Behinderung» ein signifikanter Risikofaktor für partnerschaftliche Gewalt ist.
Auch der Bundesrat hat erkannt, dass hier ein Problem besteht. Im Postulatsbericht «Gewalt an Menschen mit Behinderungen in der Schweiz», den der Bundesrat im Juni 2023 publiziert hat, widmet sich eine Massnahme deshalb der Verbesserung der Datenlage: Es soll geprüft werden, wie Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderungen besser erfasst werden kann. Ausserdem soll abgeklärt werden, wie Menschen mit Behinderungen in Zukunft einfacher an Bevölkerungsumfragen teilnehmen können, damit sie über ihre Situation Auskunft geben können. Der Bundesrat will zudem die Forschung fördern, um mehr über die Gewaltbetroffenheit von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz zu erfahren.
Fälle werden nicht erfasst
Bei der Erfassung von häuslicher Gewalt bei Menschen mit Behinderungen kommt noch eine weitere Schwierigkeit hinzu: Fälle wie der von Sandra und Robert, die nicht in einem eigenen Haushalt leben, werden bislang nicht als häusliche Gewalt eingestuft. Entsprechend kommen die bei häuslicher Gewalt üblichen Schutzmassnahmen wie Kontaktverbote oder Wohnungsverweise nicht zum Zug. Der Bundesrat hat deshalb die zuständigen Bundesstellen damit beauftragt, abzuklären, ob Menschen, deren aktuelles Zuhause ein Heim oder eine andere Einrichtung ist, einen vergleichbaren Schutz geniessen oder ob es diesbezüglich Lücken gibt.
Viele Hilfs- und Schutzangebote nicht barrierefrei
Eine besondere Herausforderung in diesem Zusammenhang ist auch, dass Betroffene oft nicht wissen, an wen sie sich wenden können. Das belegt eine Studie der Hochschule Luzern: Sie kommt zum Schluss, dass die vorhandenen Beratungs- und Schutzangebote zu wenig bekannt und nicht gut genug auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ausgerichtet sind. Beispielsweise sind Schutzunterkünfte und Informationen nicht barrierefrei zugänglich oder Mitarbeitende von Opferhilfestellen haben keine Erfahrung mit der Beratung von kommunikationseingeschränkten Personen.
Zugang verbessern
Um den Zugang zu Beratungs- und Hilfsangeboten für Menschen mit Behinderungen zu verbessern und die Angebote bekannter zu machen, hat der Bundesrat in seinem Postulatsbericht auch zu diesem Aspekt Massnahmen und Empfehlungen formuliert. Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) entwickelt zurzeit ein Online-Hilfsmittel, das Opferhilfestellen, Beratungsstellen und Schutzunterkünfte dabei unterstützt, ihre Angebote barrierefrei zu gestalten.
Sandra hat schliesslich doch den Mut gefunden, ihre Betreuenden auf die Gewalt durch Robert anzusprechen. Mit Unterstützung der internen Meldestelle des Wohnheims wurden Vorkehrungen getroffen, um sie zu schützen. Und sie wurde auf spezialisierte Opferhilfestellen hingewiesen. Falls ihr je wieder Gewalt widerfährt, weiss sie nun, wo sie Unterstützung bekommt.
Quellen
Foto: Marco Finsterwald