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«Die Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf die Entwicklung der Kinder werden immer noch unterschätzt»

Ausgabe Nr. 141
Jun. 2024
Häusliche Gewalt – erkennen, ansprechen, handeln

Kinder, die Gewalt erlebt haben, brauchen einen sicheren Ort, sagen Christina Kohli vom Sozialpädiatrischen Zentrum des Kantonsspitals Winterthur (SPZ) und Milena Brüni von der Winterthurer Fachstelle für Opferhilfeberatung und Kinderschutz OKey. Im Interview erklären sie, wie sie die Betroffenen unterstützen und wie ihre Stellen zusammenarbeiten.

Frau Kohli, weshalb ist es so wichtig, Kinder und Jugendliche vor häuslicher Gewalt zu schützen?

Christina Kohli: Häusliche Gewalt kann einen grossen Einfluss auf die psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben. Damit einhergehende Verhaltensauffälligkeiten beeinträchtigen oft auch die schulische und soziale Entwicklung. Und Kinder sind auf feinfühlige Bezugspersonen angewiesen. Auf diese Weise können sie die sozio-emotionalen Fähigkeiten erlernen, die sie dann in späteren Beziehungen und Kontexten einbringen und weiterentwickeln können.

Milena Brüni: Beim Miterleben von häuslicher Gewalt kann es auch sein, dass die betroffenen Kinder kein adäquates Konfliktmanagement lernen, denn die Art, wie die Eltern Konflikte lösen, prägt das eigene Konfliktverhalten. Die Auswirkungen der häuslichen Gewalt können sich schon in der Schwangerschaft, beziehungsweise beim ungeborenen Kind, zeigen: Heute weiss man, dass Gewalt in der Schwangerschaft einen Einfluss auf die Stressreaktivität des Kindes haben kann. Die Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf die kindliche Entwicklung werden immer noch unterschätzt.

Gewalt kann also vererbt werden?

Christina Kohli: In gewisser Weise schon. Kinder von Müttern, die in der Schwangerschaft häusliche Gewalt erfahren haben, sind anfälliger für Stress und psychische Erkrankungen. Daran sind unter anderem epigenetische Prozesse beteiligt. Auch tierexperimentelle Studien konnten klar zeigen, dass traumatische Erlebnisse tatsächlich genetisch an nächste Generationen weitergegeben werden können.

Milena Brüni: Es ist ein Teufelskreis. Eltern, die von Gewaltdynamiken betroffen sind, fällt es tendenziell schwerer, auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass diese Fähigkeit für immer verloren geht. Wir sehen, dass Eltern wieder vermehrt auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen können, wenn die Gewalt gestoppt werden konnte. Das zeigt: Es hilft, frühzeitig Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen.

Frau Brüni, wie sieht die Unterstützung konkret aus, die Sie auf der Fachstelle OKey anbieten?

Milena Brüni: Betroffene und Angehörige dürfen sich bei uns melden und wir prüfen gemeinsam, welche Unterstützung sie benötigen. Häufig kommen die Kinder und Jugendlichen auch durch Zuweisung der Polizei zu uns, zum Beispiel im Rahmen von Gewaltschutzmassnahmen. Auch Frauenhäuser, Beratungsstellen oder Schulen können Minderjährige oder ihre Angehörigen an uns überweisen. Minderjährige erhalten bei uns im Rahmen der Opferhilfe Beratung und einen sicheren Raum, um über Erlebtes zu sprechen. Wir informieren sie über ihre Rechte und Möglichkeiten. Unsere Beratungen sind freiwillig, vertraulich und kostenlos.

Bei Kindern und Jugendlichen, die von elterlicher Partnerschaftsgewalt betroffen sind, laden wir den gewaltbetroffenen Elternteil – in den meisten Fällen die Mutter – ebenfalls ein. Und für den Täter oder die Täterin bieten wir – wenn sinnvoll – Informationsgespräche an. Wir erklären ihnen, was die Fachstelle macht oder wo sie selbst Unterstützung erhalten können.

Und in welchen Fällen überweisen Sie Kinder ans Sozialpädiatrische Zentrum des Kantonsspitals Winterthur?

Milena Brüni: Das kann aus ganz unterschiedlichen Gründen notwendig sein. Dabei spielt eine grosse Rolle, ob das Familiensystem genügend eigene Ressourcen zur Verarbeitung des Erlebten aufbringen kann und ob das Erlebte ohne therapeutische Hilfe verarbeitet werden kann. Eine Zunahme von Folgesymptomen wie zum Beispiel Flashbacks, Alpträume, Sprachschwierigkeiten oder Auffälligkeiten in der Schule kann anzeigen, dass weitere Unterstützung nötig ist.

Christina Kohli: Man kann von einem Ereignis nicht auf die psychischen Folgen schliessen. Entsprechend wichtig ist es, dass wir genau hinschauen. Nur so können wir Kinder, die ein hohes Risiko haben, langfristig an den Auswirkungen dieser Erfahrungen zu leiden, früh erfassen und entsprechende Unterstützung leisten. Das Besondere unserer Zusammenarbeit mit der Fachstelle OKey besteht darin, dass wir die Prozesse zwischen Opferberatung, Kindesschutz und Psychotraumatologie eng aufeinander abgestimmt haben.

Milena Brüni: Und das hilft uns auch, die Familien optimal zu unterstützen. Je interdisziplinärer wir einen Fall anschauen können, desto umfassender und spezifischer kann die Einschätzung dazu erfolgen, was die Familie braucht.

Milena Brüni und Christina Kohli

Milena Brüni und Christina Kohli

Was brauchen gewaltbetroffene Kinder besonders?

Christina Kohli: Es ist wichtig, den Kindern zu vermitteln, dass sie keine Verantwortung am Geschehenen tragen. Denn Kinder denken oft, dass sie schuld sind, wenn es in der Familie zu Gewalt kommt. Sie hören vielleicht, dass der Papa nur zugeschlagen hat, weil sie nicht ruhig waren. Aufgrund der Loyalität gegenüber den Eltern fällt es Kindern zudem oft schwer, über Gewalt zu sprechen. Deshalb haben wir zusammen mit der Stiftung OKey Bildkarten zur Erfassung von belastenden Ereignissen entwickelt, die Fachleute dabei unterstützen sollen, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen. Den Kindern wird dadurch auch bewusst gemacht, dass es andere Kinder gibt, die vergleichbare schmerzhafte Erfahrungen gemacht haben. Es findet im besten Fall eine Enttabuisierung statt.

Milena Brüni: Das ist ganz wichtig! Denn viele Kinder denken, dass sie die Einzigen sind, die Gewalt erlebt haben. Sie müssen merken, dass sie nicht alleine sind, und dass wir ihnen helfen können. Wir unterstützen auch die Eltern dabei, wieder auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen zu können. Bei Kindern und Jugendlichen, die von elterlicher Partnerschaftsgewalt betroffen sind, erleben wir oft, dass sich die gewaltbetroffenen Elternteile schuldig fühlen, weil sie zum Beispiel den Trennungsprozess erst spät angegangen sind und denken, dass sie ihre Kinder nicht genügend geschützt haben.

Das Ausmass der Gewalt zeigt sich manchmal auch erst im Verlauf des Gesprächs. Deshalb ist es so wichtig, dass Fachpersonen sensibilisiert werden, sei es im Kindergarten, in der Kita, in der Schule. Je sensibilisierter Fachleute sind, desto eher trauen sie sich auch, mit den Kindern darüber zu sprechen und Unterstützung und Beratung zu organisieren.

Was müssen Lehrpersonen im Umgang mit gewaltbetroffenen Kindern wissen?

Christina Kohli: Lehrpersonen sollten beispielsweise über mögliche psychische Folgen von häuslicher Gewalt informiert sein. Und sie sollten die konkreten Abläufe bei einem Verdacht kennen. Deshalb bieten wir auch regelmässig Fortbildungen zu Trauma und Traumafolgen an.

Milena Brüni: Es ist schon viel wert, zuzuhören und dem Kind zu zeigen, dass ihm geglaubt wird. Die Schule kann ein sicherer Ort sein, gerade wenn es das eigene Zuhause nicht ist. Also ein Ort, an dem sich ein Kind vertrauensvoll öffnen kann und darauf hoffen darf, direkt oder indirekt über den Beizug von Fachpersonen Unterstützung zu erhalten.

Zum Schluss: Wie kann die Prävention im Bereich häusliche Gewalt gestärkt werden?

Milena Brüni: Auch da spielen Fachpersonen eine wichtige Rolle. Je mehr Fachkräfte über häusliche Gewalt und die dazugehörigen Dynamiken wissen, desto besser können Kinder und Jugendliche geschützt werden.

Christina Kohli: Es braucht zudem genügend Ressourcen, damit betroffene Familien längerfristig eng begleitet werden können, falls nötig. Und für Kinder und Jugendliche, die Unterstützung benötigen, brauchen wir dringend genügend Beratungs- und Therapieplätze.

In früher Kindheit besonders gefährdet

Die frühe Kindheit von null bis acht Jahren stellt eine entscheidende Phase für die Entwicklung eines Kindes dar. Gleichzeitig ist diese Altersgruppe besonders gefährdet: Schätzungen gehen davon aus, dass die Hälfte der von häuslicher Gewalt betroffenen Kinder acht Jahre oder jünger ist. Die Folgen sind gross, denn rund 40 Prozent dieser Kinder weisen später ernsthafte Entwicklungsrückstände oder Lernschwierigkeiten in der Schule auf (1).

Christina Kohli war zunächst Lehrerin und studierte danach an der Universität Bern Entwicklungs- und Organisationspsychologie. Später hat sie die Fachtitel für klinische Psychologie und Psychotherapie FSP erworben. Sie ist Leiterin der Fachstelle Psychotraumatologie am Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) des Kantonsspitals Winterthur. Daneben ist sie supervisorisch und in der Lehre tätig, u.a. an pädagogischen Hochschulen. Sie lebt mit ihrem Partner und den drei gemeinsamen Teenagern in Winterthur.

Milena Brüni hat Soziale Arbeit an der ZHAW studiert und ist Fachberaterin Psychotraumatologie. Sie war zuerst in der Kinder- und Jugendarbeit tätig und arbeitete anschliessend als Beraterin im Frauenhaus St. Gallen, wo sie den Bereich «Beratung Mutter – Kind» mitaufgebaut hat. Aktuell ist sie als Co-Leiterin der Fachstelle OKey unter anderem für die Weiterentwicklung des Beratungsangebots zuständig. Sie lebt mit ihrem Partner und dem gemeinsamen Sohn in Winterthur.

Quellen

(1) Kinderschutz Schweiz, Kurzposition «Schutz in der frühen Kindheit III: Besserer Schutz von Kindern in der Familie» 

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