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Dr. med. Nathalie Romain-Glassey

Häusliche Gewalt und öffentliche Gesundheit: trotz Fortschritten immer noch dringender Handlungsbedarf

Ausgabe Nr. 141
Jun. 2024
Häusliche Gewalt – erkennen, ansprechen, handeln

Forum. Dank starker kantonaler Unterstützung leistete das Westschweizer Universitätszentrum für Rechtsmedizin im Jahr 2006 Pionierarbeit in der Schweiz, als es am Universitätsspital Lausanne (CHUV) die Rechtsmedizinische Untersuchungsstelle für Gewaltopfer gründete. Heute bietet die Stelle in vier Spitälern forensische Sprechstunden für Opfer von interpersoneller – und insbesondere häuslicher – Gewalt an und ist in der Forschung und Bildung tätig.

Bei der Prävention von häuslicher Gewalt wurden in den letzten zwei Jahrzehnten echte Fortschritte erzielt. Beispielsweise arbeitet das Bundesamt für Justiz derzeit an der Umsetzung von parlamentarischen Vorstössen zur Einrichtung von Nothilfezentren für Opfer. Und auch die geplante nationale Bevölkerungsumfrage zur Prävalenz von geschlechtsspezifischer Gewalt ist ein Fortschritt: Diese Erhebung soll die Gewalt, die der Polizei nicht gemeldet wird, sichtbar machen und eine Wirkungsanalyse der Präventionskampagnen und interventionellen oder gesetzgeberischen Entwicklungen ermöglichen.

Obwohl häusliche Gewalt heute ein anerkanntes Problem der öffentlichen Gesundheit ist, wird sie von Gesundheitsfachpersonen immer noch unterschätzt. Häufig wird sie auf eine Abfolge von körperlichen Angriffen reduziert, die durch eine Trennung beendet werden könnte. Psychologische, sexuelle oder wirtschaftliche Gewalt wird regelmässig vernachlässigt, obwohl sie weitverbreitet ist und schwerwiegende langfristige biopsychosoziale Folgen haben kann. Auch die geschlechtliche Dimension wird in der Praxis oft übergangen, obwohl sozioökonomische Ungleichheiten in der Partnerschaft den Handlungsspielraum von weiblichen Opfern, ganz besonders von Müttern, einschränken können. Gewalt in Paarbeziehungen wird manchmal auch als Konflikt behandelt, was der dahinterstehenden Machtdynamik und der gefährlichen Situation, in der sich die Opfer befinden, nicht angemessen ist. All dies birgt das Risiko einer unsachgemässen Betreuung oder sogar einer Traumatisierung der Opfer und einer ineffizienten Bekämpfung häuslicher Gewalt. Eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Schulung aller Gesundheitsfachpersonen ist daher von entscheidender Bedeutung, um die Erkennung von Opfern und ihre Weiterleitung an geeignete Stellen zu verbessern.

Um die Opfer von häuslicher Gewalt vor gesundheitlichen Folgen zu schützen, muss der Gewalt und Angst ein Ende gesetzt werden. Die Reichweite der Interventionen ist derzeit beschränkt, weil die Täter unzureichend erkannt und behandelt werden. Sie werden kaum zu Programmen verpflichtet, um Rückfälle oder andere damit verbundene Probleme wie Alkoholkonsum zu vermeiden. Internationale Empfehlungen werden regelmässig herausgegeben und sollten weiterverbreitet werden.

So kommt der öffentlichen Gesundheit eine Schlüsselrolle bei der Prävention häuslicher Gewalt zu, und ihre Beteiligung an den Debatten über die Problematik ist so legitim wie unerlässlich.

Kontakt

Dr. med. Nathalie Romain-Glassey
Leitende Ärztin, Abteilungsleiterin der Rechtsmedizinischen Untersuchungsstelle für erwachsene Gewaltopfer des Westschweizer Universitätszentrums für Rechtsmedizin (CURML)

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