
«Bei der Stressprävention haben wir noch riesiges Verbesserungspotenzial»
Mär. 2022Betriebliches Gesundheitsmanagement
In der Schweiz gibt es deutlich weniger Arbeitsunfälle als noch vor 30 Jahren. Und auch der Gesundheitsschutz hat bedeutende Fortschritte gemacht, sagt Rafaël Weissbrodt, Professor an der Hochschule für Gesundheit Wallis. Doch in Sachen partizipative Prozesse bei der Arbeit gehören wir in Europa zu den Schlusslichtern.
Rafaël Weissbrodt, mit Ihrem Team haben Sie eine Studie zum Weiterbildungsangebot im Bereich betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) durchgeführt. Was sind die Ergebnisse dieser Studie?
Im Auftrag der institutionellen Plattform BGM haben wir einen Überblick über alle Weiterbildungen in der Schweiz erstellt und die Inhalte der einzelnen Angebote beschrieben. Wir haben unsere Suche auf Kurse und Weiterbildungen beschränkt, die sich inhaltlich explizit sowohl mit Arbeit wie auch mit Gesundheit beschäftigen. Dabei haben wir zum Beispiel Angebote zum Thema Geschlechtergerechtigkeit am Arbeitsplatz ausgeschlossen, wenn im Programm oder bei den Lernzielen kein Bezug auf Arbeitssicherheit oder Gesundheit gemacht wird. Trotzdem sind wir auf schweizweit 463 Weiterbildungsangebote gestossen, viel mehr, als wir erwartet hatten. Ungefähr ein Viertel aller Weiterbildungen behandelt Suchtfragen. Die anderen Weiterbildungsangebote verteilen sich über alle drei Säulen des sogenannten BGM-Hauses, also die Arbeitssicherheit und den obligatorischen Gesundheitsschutz als erste Säule, die freiwillige Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz als zweite Säule und das Case Management als dritte Säule. Allerdings ist die erste Säule in der Weiterbildung deutlich stärker repräsentiert, drei Viertel aller Angebote sind hier angesiedelt.
«Wir sind auf schweizweit 463 Weiterbildungsangebote gestossen, viel mehr, als wir erwartet hatten. Ungefähr ein Viertel aller Weiterbildungen behandelt Suchtfragen.»
Wie erklären Sie sich diese Konzentration der Weiterbildungen auf die obligatorische erste Säule?
Das hat damit zu tun, dass in Sachen Arbeitssicherheit in der Schweiz traditionellerweise ein technisch orientierter und männerlastiger Ansatz verfolgt wird. Bis in die 1990er-Jahre interessierten sich viele Unternehmen erst für Prävention am Arbeitsplatz, nachdem sich Unfälle ereignet hatten. Dann trat 1996 die sogenannte ASA-Richtlinie in Kraft, die Unternehmen zu einem Aufbau eines Sicherheitssystems und einem systematischen Vorgehen zur Vermeidung von Unfällen und Berufskrankheiten verpflichtete. Die Arbeitgeber mussten sich Kompetenzen beschaffen, um in ihren Betrieben Arbeitssicherheit gewährleisten zu können. So entstand ein Markt für Arbeitssicherheit, in dem Sicherheitsingenieure, Arbeitsärzte und -hygieniker sowie Sicherheitsfachleute ihre Dienstleistungen anboten. Allerdings blieben Personen mit humanwissenschaftlichem Hintergrund, etwa Arbeits- und Organisationspsychologen, lange aussen vor. Erst in den letzten Jahren hat das Feld begonnen, sich langsam zu öffnen. Eine solche Entwicklung lässt sich auch weltweit beobachten, aus der die sogenannte Safety Science hervorgegangen ist, die Technikerinnen mit Ergonomen, Arbeitspsychologen und Risikosoziologinnen zusammenbringt. Dabei bleibt aber das Problem, dass sich technische Lösungen oft einfacher finden und umsetzen lassen als Änderungen an der Arbeitsorganisation. Leute zu überzeugen, etwas an ihren Arbeitsabläufen zu ändern, ist immer schwierig.
«Der Rückgang der Unfälle hat auch ganz klar mit der Transformation der Wirtschaft zu tun: Bei uns breitet sich der Dienstleistungssektor aus. Die gefährlichsten und schmutzigsten Arbeiten haben wir ins Ausland ausgelagert.»

Die meisten BGM-Weiterbildungsangebote in der Schweiz drehen sich um Arbeitssicherheit und den obligatorischen Gesundheitsschutz.
Wirken die Kurse, gibt es heute weniger Arbeitsunfälle als vor 20 oder 30 Jahren?
Tatsächlich zeigen die Statistiken eine Abnahme der Arbeitsunfälle in der Schweiz. Allerdings ist unklar, inwieweit das auf die Präventionsbemühungen zurückzuführen ist. Der Rückgang der Unfälle hat auch ganz klar mit der Transformation der Wirtschaft zu tun: Bei uns breitet sich der Dienstleistungssektor aus. Die gefährlichsten und schmutzigsten Arbeiten haben wir ins Ausland ausgelagert. Vereinfachend lässt sich sagen, dass wir die klassischen Sicherheitsrisiken in der Schweiz unterdessen ziemlich gut beherrschen. Auch im Bereich Gesundheitsschutz haben wir mit Vorschriften zu Tageslicht oder der Luftqualität vieles unter Kontrolle. Doch bei den muskuloskelettalen Erkrankungen sieht es weniger gut aus. Eigentlich sind die Massnahmen zur Vorbeugung klar und seit Langem bekannt: Es geht darum, mehr Abwechslung in repetitive Arbeiten zu bringen und den Zeitdruck zu verringern. Doch die Verhütung ist mit Veränderungen in der Arbeitsorganisation verbunden. Das ist heikel, denn es kostet und verunsichert – und wird deshalb kaum umgesetzt.
Können Sie etwas näher auf diese Widerstände eingehen?
Finanzielle Ressourcen sind eine Schwierigkeit, aber nicht die einzige. Eine weitere Schwierigkeit ist die Angst vor der Auseinandersetzung. Viele Vorgesetzte scheuen sich, eine Diskussion zum Thema Arbeitsgestaltung zu beginnen, weil sie befürchten, dass die Mitarbeitenden dann mit jeweils anderen Ideen kommen, die sich vielleicht widersprechen – und das Ganze unbewältigbar wird. Die Schweiz zeichnet sich durch begrenzte Praktiken und Bestimmungen im Bereich der Mitbestimmung oder Partizipation aus. In Europa gehören wir in dieser Hinsicht zu den Schlusslichtern. Dabei wissen wir seit den 1960er-Jahren, dass partizipative Ansätze zu den wirksamsten Massnahmen zur Vorbeugung von Stress am Arbeitsplatz gehören.
Wo verläuft die Grenze zwischen Arbeitssicherheit und Gesundheitsförderung?
Das ist eine gute Frage. Oft drückt auch genau hier der Schuh, weil die beiden Säulen in der Schweiz von verschiedenen Institutionen getragen werden: Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), die kantonalen Arbeitsinspektorate und die Suva kümmern sich um Fragen rund um die Arbeitssicherheit und den obligatorischen Gesundheitsschutz. Bei der zweiten Säule spielen vor allem Gesundheitsförderung Schweiz oder die kantonalen Gesundheitsförderungsstellen eine Rolle. Zudem stützen sich die beiden Säulen auch auf unterschiedliche gesetzliche Grundlagen. An der Schnittstelle entstehen dadurch viele Grauzonen. Ein typisches Beispiel ist Stress und psychische Gesundheit am Arbeitsplatz. Für Aussenstehende ist oft nicht ersichtlich, wer wofür zuständig ist und inwieweit die Stressprävention zur Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gehört. Wir müssen uns wohl auch damit abfinden, dass die Realität oft so komplex ist, dass sie sich ein Stück weit diesen gesetzlichen und institutionellen Unterscheidungen entzieht.
«Für Aussenstehende ist oft nicht ersichtlich, wer wofür zuständig ist und inwieweit die Stressprävention zur Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gehört.»
Wie meinen Sie das?
Bei Stress am Arbeitsplatz spricht man oft von einem Gleichgewicht zwischen Belastungen – also allem, was wehtut – und Ressourcen, die Personen aufbringen, um diese Belastungen aufzufangen. Vielleicht könnte man sagen, dass die erste, obligatorische Säule eher auf der Seite der Belastungen steht. Und es hier also darum geht, was der Arbeitgeber alles machen muss, um zu vermeiden, dass diese Belastungen zu gross werden. Und die zweite, freiwillige Säule steht dementsprechend eher auf der Seite der Ressourcen, nicht nur der Individuen, sondern auch der Ressourcen des Betriebs, des Teams oder der Vorgesetzten.
In Ihrer Dissertationsarbeit haben Sie festgestellt, dass Stress am Arbeitsplatz von Arbeitgebenden als wichtigster psychosozialer Faktor erachtet wird, wichtiger als etwa sexuelle Belästigung oder Mobbing.
Ja, dieses Resultat lässt sich auf zwei Arten interpretieren. Einerseits kommt Stress häufiger vor als Mobbing. Andererseits ist es einfacher, darüber zu reden. Denn gestresst zu sein, ist sozial angesehen. Aber über psychologische Belästigung zu sprechen, fällt vielen schwer.
Sie haben auch festgestellt, dass es in Unternehmen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten mehr Angriffe auf die persönliche Integrität der Mitarbeitenden gibt. Wieso ist das so?
Ich habe eine Korrelation gefunden und kann keinen Kausalzusammenhang belegen. Doch dass wirtschaftliche Probleme zu mehr Stress und stärker angespannten zwischenmenschlichen Beziehungen führen, die im Extremfall in Mobbing ausarten können, ist eine naheliegende Erklärung. Als ich noch als Berater gearbeitet habe, bin ich vielen Personen begegnet in Situationen, in denen tatsächlich ein Kausalzusammenhang bestand. Wenn ein Unternehmen umstrukturiert wird, geht das meist mit einer grossen Verunsicherung einher. Und Mobbing ist oft eine Verteidigungsreaktion von Leuten, die sich bedroht fühlen – und deshalb versuchen, einen Sündenbock zu finden.
Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen für das betriebliche Gesundheitsmanagement?
Daten der europäischen Erhebung über die Arbeitsbedingungen belegen, dass sich die Schweizer Arbeitnehmenden zusehends weniger autonom fühlen. Das ist ein klares Warnsignal für die Gesundheit am Arbeitsplatz. Bei der Prävention von psychosozialen Risiken haben wir in der Schweiz noch ein riesiges Verbesserungspotenzial. Bei uns herrscht leider immer noch die Tendenz vor, Stress am Arbeitsplatz auf individuelle Zerbrechlichkeit zurückzuführen. Für meine Dissertation habe ich, zusammen mit Kolleginnen und Kollegen des SECO, mit 400 Arbeitgebenden Interviews geführt. Viele haben mir zu verstehen gegeben, dass sie Stress als ein personenbezogenes Problem ansehen, für das man als Arbeitgeber offen sein soll. Sie sagten zum Beispiel: «Meine Angestellten dürfen zu mir kommen, wenn sie ein Problem haben, dann finden wir eine Lösung.» Andere sagten: «Bei uns ist Burnout kein Thema, wir haben nie einen Fall gehabt.» Doch als Wissenschaftler interessieren wir uns nicht nur für einzelne Fälle, sondern auch für allgemeine Risikofaktoren.
Aber verschiedene Personen reagieren nun mal unterschiedlich auf Stress. Bei der Frage, wie anfällig oder resistent jemand ist, spielen doch auch individuelle Faktoren eine Rolle?
Ja, das stimmt. Doch die Literatur zeigt klar, dass die wirksamsten Interventionen gleichzeitig zwei Seiten angehen, sowohl die Arbeitsgestaltung wie auch die Förderung der persönlichen Ressourcen.
Wie sieht Ihrer Meinung nach ein ideales BGM-System aus?
Ich würde es begrüssen, wenn wir einen holistischen Ansatz hätten, in dem Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz ein Ganzes bilden. Ich bin Organisationspsychologe, mein Ziel ist, die Arbeit so zu gestalten, dass sie wirksam und gesund ist. Dazu zählt für mich nicht nur die Vermeidung von Unfällen und Berufskrankheiten, sondern auch die Vermeidung von Stress. Für mich gehört das einfach zusammen. Zudem würde ich mir mehr offene Diskussionen wünschen zwischen Sicherheitsfachleuten, Ingenieurinnen, Ergonomen und anderen Spezialistinnen des Gesundheitsschutzes in den Betrieben. Das wird heute viel zu wenig gemacht – aber es wäre eine grosse Bereicherung.
Dr. Rafaël Weissbrodt
Der Ausbildungsweg von Rafaël Weissbrodt führte ihn von der Arbeitspsychologie über die Ergonomie und schliesslich zur Politikwissenschaft, in der er an der Universität Lausanne dokto- rierte – zumThema, inwiefern Arbeitsinspektoren zur Prävention von psychosozialen Risiken am Arbeitsplatz beitragen. Beruflich arbeitet Weissbrodt seit 2000 in der Intervention, Ausbildung und Forschung zur Gesundheit am Arbeitsplatz. Seit April 2019 ist er assoziierter Professor an der Hochschule für Gesundheit Wallis in Sitten, wo er verschiedene Projekte in den Bereichen Ergonomie, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz durchführt.