Besser hinhören
Mär. 2021Verhaltenssüchte
Während Personen, die exzessiv Alkohol oder illegale Substanzen konsumieren, im Alltag oft auffallen, sind Personen, die von Kaufsucht oder internetbezogenen Störungen (IBS) betroffen sind, weniger sichtbar. Die Gesellschaft muss ein feineres Gespür für Verhaltenssüchte entwickeln – und den bisher oft still leidenden Menschen vermehrt ein Ohr leihen.
Die Zahlen lassen aufhorchen: Gemäss den Daten der Schweizerischen Gesundheitsbefragung nutzen 3,8 % der Bevölkerung ab 15 Jahren – umgerechnet etwa 270 000 Personen – das Internet in einem problematischen Ausmass. Und einer neuen Studie zufolge gelten 4,8 % der Bevölkerung als pathologisch kaufsüchtig. «Wir müssen davon ausgehen, dass nur die wenigsten Kaufsüchtigen behandelt werden», sagt Renanto Poespodihardjo vom Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel. «Es ist wichtig, dass wir auch die anderen 90 bis 95 % der Betroffenen ansprechen.»
Wenn aus Gewohnheit eine Abhängigkeit wird
Und Christina Messerli ergänzt: «Im Gegensatz etwa zu einer Alkoholabhängigkeit, die von aussen meist relativ gut zu erkennen ist, sind Verhaltenssüchte oft stillere und subtilere Geschichten.» Messerli ist Regionalleiterin und Systemtherapeutin im Suchtberatungszentrum Bern der Stiftung «Berner Gesundheit». Eine Verhaltenssucht lehne an tägliche Aktivitäten an und man müsse jeweils genau hinschauen, um den Punkt zu identifizieren, wo aus Gewohnheit eine Abhängigkeit werde. Die «Berner Gesundheit» arbeite mit Peers und Schlüsselpersonen zusammen, um Betroffene mit Informationen und Hilfsangeboten zu erreichen. Grundsätzlich müsse man die Gesellschaft stärker sensibilisieren und aufklären, um das Bewusstsein für die problematischen Verhaltensmuster in den Bereichen Social Media, Gamen, Shopping und Sexualität zu schärfen.
Die fehlende Aufmerksamkeit scheint in besonderem Masse junge Frauen zu betreffen. Obwohl sie, wie epidemiologische Daten belegen, gleich häufig von IBS betroffen sind wie Männer, finden sie viel seltener den Weg in die Beratung oder in die Behandlung. Wie eine kürzlich in Deutschland durchgeführte Studie gezeigt hat, liegt das einerseits daran, dass das soziale Umfeld das Suchtverhalten bei jungen Frauen nur selten wahrnimmt und problematisiert. Dadurch fällt die Motivation weg, sich von aussen Hilfe zu holen.
Andererseits spielt der Umstand eine Rolle, dass viele von IBS betroffene Frauen auch weitere psychische Störungen entwickeln. Wenn sie deswegen in Behandlung kommen, wird die komorbid bestehende IBS meist übersehen: Die Gespräche mit jungen Frauen in den Beratungsstellen drehen sich vor allem um die Selbstwertproblematik, um Essstörungen oder um Mobbing, während bei Männern die problematische Internetnutzung – meistens das Gamen – bei der Diagnose im Vordergrund steht und Therapieprogramme explizit auf den Umgang mit einer Verhaltenssucht ausgerichtet sind.
Mehr frauenspezifische Angebote
Für die Schweiz stehen ähnliche Untersuchungen zwar noch aus, doch die Situation dürfte mit derjenigen in Deutschland vergleichbar sein, wie der jüngste Expertenbericht zur problematischen Internetnutzung in der Schweiz festhält, an dem auch Messerli mitgewirkt hat. Die Suchtfachstellen wollen deshalb in Zukunft vermehrt in frauenspezifische Angebote investieren. Darüber hinaus geht es Messerli auch ganz allgemein darum, dass Verhaltenssüchte mehr zum Thema werden.
«Wie viele Hausärzte fragen bei Depressiven nach, wie es um ihr Online-Verhalten steht?», sagt Messerli. Ihre Vision ist, dass die Gesellschaft ein feines Netz flicht und in einem andauernden Diskurs die Nuancen herausarbeitet, wann ein Verhalten bedenkenlos, wann es riskant und wann es schädlich ist. Offene Gespräche in Familien und partnerschaftlichen Beziehungen könnten so an den Tag legen, wann es angezeigt sei, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
«Junge Leute sind sich den Umgang mit Ambivalenzen in Bezug auf den Konsum mehr gewohnt, viele haben sich schon Gedanken gemacht, wie viel Zeit sie vor dem Handy verbringen wollen», sagt Messerli. Sie hegt deshalb die Hoffnung, dass es der neuen Generation einfacher gelingen wird, ein wachsames Auge auf den Umgang mit neuen Medien zu werfen, ohne die Betroffenen zu stigmatisieren und ihr Verhalten zu pathologisieren.