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«Es gibt ein grosses gesellschaftliches Wegschauen»

Ausgabe Nr. 130
Mär. 2021
Verhaltenssüchte

5 Fragen an Renanto Poespo­dihardjo vom Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Als einzige Einrichtung in der Schweiz bietet die dortige Abteilung Verhaltenssüchte auch eine stationäre Behandlung für Patientinnen und Patienten mit einer Kaufsucht an.

1   Was verstehen Sie unter Kaufsucht?

Es gibt verschiedene Kriterien, die eine Kaufsucht definieren. Ein wichtiges Kriterium ist, wenn man sich den negativen Konsequenzen seines Verhaltens zwar bewusst ist, aber dann trotzdem an diesem Verhalten festhält.

Kaufsüchtige empfinden unwiderstehliche Kaufimpulse, die mit einem Kontrollverlust einhergehen. Ihr unbändiges Kaufverlangen kann sogar dazu führen, dass sie Delikte begehen, die weit weg sind von ihrem Selbstbild und ihren Wertvorstellungen. Und auch vom Eindruck, den sie anderen Menschen gegenüber vielfach vorleben. Ein weiteres Kriterium ist die gedankliche Vereinnahmung. Bei Süchtigen nimmt die Beschäftigung mit dem nächsten Kauf fast den gesamten Raum im Kopf ein. Eine Patientin hat gesagt: «Dass ich meinen Kopf wieder für mich frei habe, das war ein wichtiger Moment in der Therapie.»

2   Wie wird das Einkaufen zur Sucht?

Kaufen gehört zum Alltag. Doch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, etwa der aggressiven Vermarktung von Produkten, sowie individueller Eigenschaften einer Person kann sich das Kaufverhalten verselbstständigen. Dann führt der Konsum zu einer Erkrankung des Gehirns.

Weil es für uns schwierig ist, unser tägliches menschliches Handeln mit einer Krankheit zu verbinden, wird die Kaufsucht stark tabuisiert. Es gibt ein grosses gesellschaftliches Wegschauen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Konsum die Wirtschaft am Laufen hält – und die Gesellschaft also ein Interesse an einer möglichst grossen Nachfrage hat.

3   Wie lässt sich eine Kaufsucht therapieren?

Der erste Schritt ist, sich einzugestehen, dass man an einer Störung leidet – und bereit ist, eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch zu nehmen. Zu Beginn der Behandlung versuchen wir, eine therapeutische Beziehung aufzubauen, die einen inneren Prozess in Gang setzt. Wir signalisieren den Betroffenen, dass wir ihren Zwiespalt verstehen. Wenn eine Stimme im Kopf warnt «Tu’s nicht, du weisst, was passiert, wenn du die Unterschrift unter diesen Konsumkredit setzt» und die Person es dennoch tut, setzen sich die Strukturen im Belohnungssystem des Gehirns über die Kontrollfunktion des präfrontalen Kortex hinweg.

Wir erarbeiten – zusammen mit der Patientin oder dem Patienten – ein Störungsmodell, das die sogenannten auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren der Sucht aufzeigt. Dabei gibt es Stimuli, die – wie die Werbung für die Schnäppchenjagd am Black Friday zeigt – mitunter sehr aufdringlich sind. In gemeinsamen Gesprächen suchen wir nach Wegen, wie Betroffene diesen Stimuli begegnen können, ohne in eine Kaufsucht­attacke zu verfallen. Das sind dann immer sehr individuelle Geschichten.

4   Wie hoch ist die Erfolgsquote der  Therapie?

Eine Kaufsucht lässt sich gut behandeln. Im Vergleich zu Substanzsüchten, etwa einer Alkoholsucht, die mit Schädigungen der Leber einhergehen kann, verursacht eine Kaufsucht keine körperlichen Schäden. Deshalb haben die Betroffenen auch grössere Möglichkeiten für positive Erlebnisse nach der Behandlung. Das Problem ist der Schuldenberg. Wenn jemand in Deutschland in Privatkonkurs geht, verjähren seine Schulden nach drei oder vier Jahren. In der Schweiz hingegen bleiben viele bis an ihr Lebensende verschuldet. So wie wir als Solidargemeinschaft für teure Krebsmedikamente aufkommen, müssten wir auch bereit sein, ehemaligen Kaufsüchtigen die Schulden zu erlassen.

5   Was muss ausserdem geschehen, damit sich die Situation für Kaufsüchtige verbessert?

Unsere Gesellschaft muss die Kaufsucht als Erkrankung anerkennen. Wir dürfen sie nicht einfach unter den Teppich kehren oder als Charakterschwäche diffamieren. Dazu braucht es Sensibilisierungskampagnen, die wertfrei darstellen, dass der Konsum bei bestimmten Menschen zu erheblichen Belastungen führt. Ebenso braucht es niederschwellige, störungsspezifische Angebote, um Personen bei Zahlungsschwierigkeiten zu beraten. Anstatt solche Menschen als sündige Süchtige zu stigmatisieren, sollten wir ihnen frühzeitig helfen, auch um chronische Verläufe möglichst zu vermeiden.

Kontakt

Renanto Poespodihardjo
Leitender Psychologe Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel

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