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«Spielsperren gehen oft mit einer Verbesserung der Lebensqualität einher»

Ausgabe Nr. 130
Mär. 2021
Verhaltenssüchte

Die Spielsperre ist eine wichtige und wirksame Massnahme zum Schutz von Geldspielerinnen und Geldspielern, welche die Kontrolle verlieren, sagt Suzanne Lischer von der Hochschule Luzern. Doch oft würden Spielsperren umgangen, deshalb wären länderübergreifende Sperrlisten sinnvoll.

Frau Lischer, wie viele Menschen in der Schweiz sind von Geldspielsucht betroffen?

Wir verfügen hierzulande nur über eine eher karge Datenlage. Während in Deutschland regelmässig epidemiologische Studien zur Geldspielsucht durchgeführt werden, stehen uns in der Schweiz nur Angaben zur Verfügung, die alle fünf Jahre im Rahmen der Schweizerischen Gesundheitsbefragung erhoben werden. Gemäss der letzten Erhebung aus dem Jahr 2017 liegt die geschätzte Prävalenz in Bezug auf die letzten 12 Monate für risikoreiches Spielen bei 2,8 %, also knapp 180000 Personen, und für pathologisches Spielen bei 0,2 %, also fast 15000 Menschen. Diese Zahlen sind eindrücklich, insbesondere auch, weil meist nicht nur die Spielerinnen und Spieler darunter leiden, sondern auch ihre Angehörigen.

Wieso betrifft die Geldspielsucht mehr Männer als Frauen?

Tatsächlich zeigen die Daten, dass Frauen im Vergleich zu Männern ein nur halb so grosses Risiko haben, eine Geldspielsucht zu entwickeln. Solche geschlechtsspezifischen Unterschiede werden auch bei anderen Abhängigkeitserkrankungen beobachtet, etwa bei Alkohol oder psychoaktiven Substanzen. Die Gründe sind multifaktoriell: Wahrscheinlich spielen gesellschaftliche Erwartungen, aber auch neurobiologische und persönlichkeitspsychologische Aspekte eine Rolle, wieso mehr Männer als Frauen Grenzerfahrungen suchen. Allerdings greifen meiner Meinung nach immer noch zu viele Erklärungen auf tradierte Rollenbilder zurück, die Frauen als fürsorgliche Mütter und Männer als Ernährer zeichnen. Ich wünsche mir mehr Untersuchungen zu genderspezifischen Gründen der Suchtentstehung, die in ihren Ausführungen über diese Rollenbilder hinausgehen.

In Ihren Forschungsarbeiten befassen Sie sich schon jahrelang mit Massnahmen zum Spielerschutz. Wie steht die Schweiz im internationalen Vergleich da?

Der Spielerschutz ist in der Schweiz grundsätzlich gut und klar geregelt, auch wenn es aus Präventionssicht noch Optimierungsbedarf gibt und etwa die Werbemöglichkeiten für Geldspiele und Sportwetten eingeschränkt werden sollten. Nichtsdestotrotz gehört die Schweiz zu den Ländern mit den strengsten gesetzlichen Bestimmungen zur Vermeidung von problematischem Spielverhalten in Casinos. Das Schweizer Geld­spielgesetz verpflichtet die Spielbanken und die Lotterien, Geldspielerinnen und -spieler vor exzessivem Geldspiel und einer allfälligen Spielsucht zu schützen.

Wie machen die Spielbanken das?

Indem sie Personen vom Spielbetrieb aussperren, wenn sie herausfinden, dass sie überschuldet sind oder Einsätze tätigen, die in keinem Verhältnis zu ihrem Einkommen und Vermögen stehen. Seit Casinos im Jahr 2000 in der Schweiz legal geworden sind, wurden jedes Jahr rund 3500 Spielsperren verhängt, eine Zahl, die über die Jahre hinweg erstaunlich konstant geblieben ist. Weil nur etwa 10 % der Spielsperren wieder aufgehoben werden, sind aktuell über 60 00 Per­sonen gesperrt. Allerdings sind –
entgegen der landläufigen Meinung – die meisten Spielsperren nicht angeordnet, sondern freiwillig: 70 bis 80 % der Spielsperren werden von den Geldspielern selbst beantragt.

Ich kann mich freiwillig auf eine Liste setzen, damit ich dann – gezwungenermassen – nicht mehr spielen darf?

Ich würde nicht von Zwang reden, sondern von einer Umsetzung der Sorgfaltspflicht, auch wenn vielleicht nicht jeder Spieler erfreut ist, wenn er gesperrt wird. Aber wenn eine Gesellschaft das Geldspiel zulässt, muss sie auch Verantwortung übernehmen. Weil man beim Geldspiel in kurzer Zeit viel Geld verlieren kann, müssen wir es so regulieren, dass diejenigen Personen geschützt werden, die beim Spielen die Kontrolle verlieren.

Wie gut funktionieren die Spielsperren?

Grundsätzlich ist die Spielsperre ein wichtiges und wirksames Instrument des Spielerschutzes. Unbestrittenermassen hilft sie vielen Geldspielern, ihr Spiel einzustellen oder zumindest zu reduzieren. Zudem belegen mehrere Studien, dass eine Spielsperre oft mit einer Verbesserung der Lebensqualität einhergeht, insbesondere im Hinblick auf soziale Beziehungen, das Selbstbild und die emotionale Gesundheit. Das Problem ist, dass ein beträchtlicher Teil der Spielerinnen und Spieler die Sperre umgeht – und zum Beispiel auf Casinos im nahen Ausland ausweicht. In Liechtenstein gibt es nur 38 00 Einwohner, aber fünf Spielbanken. Um zu verhindern, dass gesperrte Spielerinnen und Spieler in grenznahe Spielbanken ausweichen, wären länderübergreifende Sperrlisten angebracht. Mit dem Artikel 103 des Geldspielgesetzes sind auch die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Austausch der Sperrlisten gegeben.

Wo sehen Sie sonst noch Verbesserungspotenzial?

Das übergreifende Sperrsystem ist sinnvoll, da gesperrte Spielerinnen und Spieler nicht nur aus den Casinos ausgeschlossen sind, sondern auch von Online-Geldspielen und interkantonal durchgeführten Lotterien und Sportwetten. Allerdings sind die sogenannten Tactilo-Automaten nicht in die Sperre eingeschlossen. Diese elektronischen Lotteriegeräte sind in der Romandie in Bars zu finden. Bei gesperrten Spielerinnen und Spielern sind sie als Ausweichobjekte beliebt. Für mich erschliesst sich nicht, weshalb die Tactilo-Automaten aus dem übergreifenden Sperrsystem ausgenommen sind.

Sind Spielsperren die einzige Massnahme im Spielerschutz?

Nein, im Geldspielbereich gelangen auch andere präventive Massnahmen zur Anwendung. Das Problem bei der Spielsperre ist, dass sie absolut ist: Man ist für das Spiel zugelassen oder nicht. Daher ist es sinnvoll, wenn der Spielerschutz auch auf weitere und feiner abgestufte schadensmindernde Massnahmen zurückgreift – und auch Schritte prüft, die ein kontrolliertes Spielen erlauben. So setzen einige Casinos sogenannte Besuchsvereinbarungen ein. Mit diesem Instrument können Spieler mit den Spielbanken abmachen, wie oft sie sie jährlich besuchen und wie hoch ihre Einsätze sein können.

Wer beim Geldspiel die Kontrolle verliert, wird gesperrt. Jedes Jahr werden in der Schweiz etwa 3500 Personen mit einer Spielsperre belegt.

In Ihrem Forschungsprojekt untersuchen Sie, wie sich eine Spielsperre auf Betroffene auswirkt. Wie gehen Sie vor?

Wir möchten wissen, welchen Einfluss eine Spielsperre auf die Lebensqualität, auf die Beratungsmotivation und auf das Spielverhalten von Geldspielern hat. In unserer vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Studie untersuchen wir, wie sich diese drei Aspekte über ein Jahr hinweg entwickeln, und zwar bei gesperrten wie auch bei aktiven Spielerinnen und Spielern. Die Rekrutierung läuft über die Casinos, wo die Mitarbeitenden die Besucher mithilfe von Flyern auf unsere Studie aufmerksam machen.

Wie weit ist Ihre Studie gediehen?

Wir haben die Studie im Herbst 2019 lanciert, sie ist auch gut angelaufen, doch dann brach die Covid-19-Pandemie aus, und die Casinos mussten in der ersten und der zweiten Welle zeitweise schlies­sen. Das hat natürlich zu Verzögerungen bei der Rekrutierung von Spielerinnen und Spielern geführt. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir unsere Studie erfolgreich zu Ende bringen können.

Gibt es schon Zwischen­resultate?

Nein, in Bezug auf unsere Hauptfragestellung können wir noch keine Aussage machen. Doch wir haben allen 171 Spielern, die wir bis Mitte März in die Studie einschlies­sen konnten, drei Wochen nach dem Lockdown einen zusätzlichen Online-Fragebogen geschickt, um zu erfahren, wie sich ihr Spielverhalten aufgrund der Schliessung der Spielbanken verändert hat. Von 93 aktiven und 17 gesperrten Spielern haben wir Antworten erhalten: Insgesamt ist die Spielintensität während des Lockdowns zurückgegangen, entgegen unseren Vermutungen ist die Teilnahme an Online-Geldspielen in dieser Zeit nicht signifikant gestiegen, obwohl sich 55% der Spieler auch während des Lockdowns an alternativen Geldspielen beteiligt haben.

Seit 2019 sind in der Schweiz auch Online-Casinos zuge­lassen. Ist der Spielerschutz dadurch besonders gefordert?

Ja, nämlich in der Früherkennung von Problemspielerinnen und Problemspielern. Die Mitarbeitenden der Spielbanken werden – beispielsweise von unserem Team an der Hochschule Luzern – darin geschult, wie sie schädliche Auswirkungen des Geldspiels in sozialer, psychischer und materieller Hinsicht frühzeitig erkennen und mit den Betroffenen das Gespräch suchen können. Die Prozesse in den realen Spielbanken sind etabliert und eingespielt. Im Gegensatz dazu ist das Online-Geldspiel in der Schweiz noch ein neues Phänomen. Verglichen mit der Früh­erkennung in den realen Casinos stehen die sogenannten Customer Agents, die das Online-Spielgeschehen überwachen und über Chats mit den Spielern kommunizieren, vor einer Aufgabe, die zugleich schwieriger als auch einfacher ist. Schwieriger, weil sie keine Menschen vor sich haben und also nicht sehen, ob jemand emotional auffällig ist. Aber auch einfacher, weil sie die Spieleinsätze auf den Rappen und die Spieldauer auf die Sekunde genau messen können.

So können sie nicht nur problematische Spielmuster, etwa das Hinterherjagen von Verlusten, beobachten, sondern auch sofort sehen, wenn gewisse Schwellenwerte überschritten werden. Die Online-Casinos haben zwar Früherkennungskriterien definiert, allerdings müssen sie noch evaluiert und gegebenenfalls angepasst werden. Denn die Frage, wie griffige Früherkennungskriterien aussehen müssen, ist noch nicht geklärt und wird in der Fachwelt noch diskutiert. Hilfreich wäre ein nationales Expertengremium, das die Online-Casinos dabei unterstützt.

Gibt es auch bei anderen Verhaltenssüchten Schutzmassnahmen, die mit der Spielsperre vergleichbar sind?

Nein, meines Wissens gibt es nichts Vergleichbares. Wie ich einem Artikel im «Beobachter» entnommen habe, belegt zwar das Online-Versandhaus Zalando Kunden, die bestellte Kleider zu oft zurückschicken, mit einer Kaufsperre. Diese Sperre hat aber nichts mit Konsumentenschutz zu tun, sondern damit, dass Zalando das Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu optimieren sucht. Im Artikel steht, dass eine automatisierte Prüfmethode über die Freigabe der Zahlungsarten entscheidet. Offenbar hat Zalando einen Algorithmus eingerichtet. Für mich heisst das, dass das Unternehmen theoretisch in der Lage wäre, auch bei pathologischem Kaufverhalten zu reagieren.

Prof. Dr. Suzanne Lischer

Suzanne Lischer hat sich an der Fachhochschule in Bern zur Sozialarbeiterin ausgebildet und später an der Universität Fribourg Gesellschafts­ wissenschaften studiert, bevor sie an der Freien Universität Berlin in Publizistik­ und Kommuni­ kationswissenschaft doktorierte. Seit 2008 ist sie an der Hochschule Luzern im Departement Sozi­ ale Arbeit tätig, zuerst als wissenschaftliche Mitarbeiterin, dann als Dozentin und Projektlei­ terin. Ihre Kompetenzschwerpunkte liegen in der Prävention und Schadensminderung im Sucht­ bereich sowie in der Entwicklung und Evaluation von Spielerschutzmassnahmen. Seit 2020 ist Lischer Mitglied der Eidgenössischen Kommissi­ on für Fragen zu Sucht und Prävention nicht­ übertragbarer Krankheiten (EKSN).

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