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Gaming Disorder: Klinische Realität oder Pathologisierung des Alltags?

Ausgabe Nr. 130
Mär. 2021
Verhaltenssüchte

Forum. Im Mai 2019 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO «Gaming Disorder» offiziell als Krankheit an­erkannt und in die 11. Ausgabe der interna­tionalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) aufgenommen.

Diese Entscheidung basiert auf der Empfehlung einer internationalen Expertengruppe. Sie wurde 2014 damit beauftragt, zu bestimmen, ob eine übermässige Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) ein Problem für die öffentliche Gesundheit darstellt. Ihre Analyse basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und kam zum Schluss, dass ein Zusammenhang zwischen der exzessiven Nutzung von Videospielen und spezifischen Störungen besteht.

Weiter belegt eine grosse Anzahl von Daten (einschliesslich Längsschnittdaten), dass die exzessive Nutzung von Videospielen mit spürbaren negativen Folgen und Störungen verbunden sein kann, die sich aufs tägliche Leben auswirken. Internationale Literatur belegt auch, dass in den letzten zehn Jahren die Nachfrage nach Behandlungen im Zusammenhang mit Videospielen gestiegen ist. 

Um eine Diagnose zu stellen, muss die betroffene Person für mindestens zwölf Monate unter einer schweren funktionellen Beeinträchtigung im Zusammenhang mit der anhaltenden Nutzung von Videospielen leiden. Diese ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: 

  • Die spielende Person erlebt einen Kontrollverlust. Sie spielt mehr, als ihr oder ihm bewusst ist, oder kann sich selbst in bestimmten Situationen nicht vom Spielen abhalten. 
  • Dem Spielen wird eine zunehmende Priorität zugeordnet. Diese geht mit einem Mangel an Interesse an täglichen Aufgaben und/oder anderen zuvor beliebten Aktivitäten einher. 
  • Das Spielverhalten wird weitergeführt, trotz erheblicher negativer Konsequenzen (z.B. psychisches Leiden, Konflikte mit Angehörigen, Probleme in der Schule).

Die Aufnahme der Gaming Disorder in die ICD-11 hat starke Reaktionen ausgelöst. Die Gegner verweisen auf die Gefahr der Pathologisierung eines unproblematischen Spielverhaltens und einer Stigmatisierung. Meiner Meinung nach ist die Unterscheidung zwischen einer grossen «Leidenschaft» und dem pathologischen (oder «süchtigen») Gebrauch zentral, um jedes Risiko der Pathologisierung zu vermeiden. Es ist tatsächlich möglich, mehrere Stunden am Tag Videospiele zu spielen, ohne dass dies zu irgendwelchen Problemen führt. Wissenschaftliche Daten zeigen sogar, dass Videospiele, wenn sie harmonisch genutzt werden, die Befriedigung verschiedener grundlegender Bedürfnisse ermöglichen. Dazu gehören insbesondere solche, die mit sozialer Zugehörigkeit oder persönlicher Erfüllung verbunden sind. 

Die Befürworter hingegen begrüssen, dass diese Entscheidung ein systematischeres und angepasstes Angebot an spezialisierter Betreuung und Prävention fördert (z.B. in Schulen). Darüber hinaus sollte die Anerkennung den Gesetzgebern ermöglichen, der Videospielindustrie bestimmte Auflagen zu machen. Dies betrifft vor allem Geldspiel­elemente in Spielen, die für Kinder und Jugendliche bestimmt sind.

Kontakt

Joël Billieux
Professor für klinische Psychologie
Psychopathologie und psychologische Evaluation an der Universität Lausanne (UNIL)

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