Interprofessionalität als Puzzlestein gegen den Fachkräftemangel
Okt. 2021Interprofessionalität und koordinierte Versorgung
Um die interprofessionelle Bildung und Zusammenarbeit zu stärken, führte das BAG von 2017 bis 2020 ein Förderprogramm durch. Welche Erkenntnisse und Empfehlungen sich aus vier Jahren Forschung und praktischer Umsetzung ergeben und wie die weitere Entwicklung aussieht, das wird in dieser spectra-Ausgabe beleuchtet.
«Interprofessionelle Bildung ist ein Werkzeug. Sie ist ein Werkzeug, um Verbindungen zwischen dem Bildungssystem und dem Gesundheitsversorgungssystem zu schaffen. Sie ist ein Werkzeug, umeine bessere Patientenversorgung zu erreichen. Sie ist ein Werkzeug für die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung.»
George E. Thibault, Institute for Medicine of the National Academies (USA)
Die Ursprünge des Förderprogramms «Interprofessionalität im Gesundheitswesen 2017–2020» liegen in der Fachkräfteinitiative. Denn die Frage damals (wie heute) lautete: Wie können wir unser Gesundheitssystem im Hinblick auf den drohenden Fachkräftemangel auch in Zukunft noch bedarfsgerecht aufrechterhalten? Die Antwort: Es braucht einerseits eine noch stärker auf die Patientinnen und Patienten ausgerichtete Versorgung. Andererseits muss das Potenzial zur Effizienzsteigerung besser genutzt werden.
Die interprofessionelle Zusammenarbeit (IPZ) leistet zu beiden dieser Aspekte einen wichtigen Beitrag. Studien deuten darauf hin, dass IPZ die Versorgungsqualität direkt beeinflusst, indem sie sich an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientiert und die Koordination zwischen den verschiedenen Fachpersonen optimiert. Sie wirkt sich durch eine erhöhte Arbeitszufriedenheit der Fachpersonen auch indirekt auf die Versorgungsqualität aus, da interprofessionelle Teams stärker auf Augenhöhe miteinander arbeiten anstatt in starren Hierarchien zu agieren. Dadurch verbleiben Fachkräfte länger im Beruf, was sich positiv auf die Kontinuität der Versorgung und somit auf die Qualität der Leistungen auswirkt. IPZ trägt aber auch zur Effizienzsteigerung des Gesundheitssystems bei, denn wenn Fachpersonen koordiniert und als Einheit agieren, können beispielsweise Doppelspurigkeiten besser vermieden werden.
Förderprogramm bewilligt
Damit das Schweizer Gesundheitswesen von IPZ profitieren kann, hat der Bundesrat ein Budget von drei Millionen Franken für ein entsprechendes Förderprogramm bewilligt, welches von 2017 bis 2020 umgesetzt wurde. Das Programm fokussierte nicht nur auf die Forschung (z.B. wissenschaftliche Grundlagen verbessern), sondern auch auf die Praxis (z.B. Modelle guter Praxis sammeln) und brachte vielfältige Ergebnisse hervor (siehe Box). Im Bereich Forschung wurden insgesamt 18 Projekte finanziert, die relativ breit das Thema Interprofessionalität untersuchten, darunter eine Kosten-Nutzen-Analyse interprofessioneller Zusammenarbeit oder eine Studie zum Potenzial interprofessioneller Bildung. Trotz vieler spannender Erkenntnisse sind eindeutige Antworten teilweise schwierig, da das Wohlergehen eines Patienten oder die erfolgreiche Teamarbeit in einem Spital sowohl von der guten IPZ als auch von vielen weiteren Faktoren abhängt. Insofern gibt es zum Beispiel keine abschliessende Antwort auf die Frage, ob IPZ insgesamt kostengünstiger ist, allerdings scheinen die Kosten zumindest im stationären Setting kein Hindernisfaktor zu sein. Wohl aber zeigen die Ergebnisse, dass in interprofessionellen Teams die Personalfluktuation tiefer ist.
Im zweiten Bereich, der Praxis, sollten die Massnahmen des Förderprogramms vor allem die Sichtbarkeit von Modellen guter Praxis und die Vernetzung der involvierten Akteure steigern. Das BAG rief zu Beginn des Programms interessierte Fachpersonen auf, Modelle zu präsentieren, die exemplarisch zeigen, wie interprofessionelle Bildung (Interprofessional education, IPE) sowie IPZ im medizinischen Alltag erfolgreich gelebt werden. Aufgrund des grossen Interesses wurde ein Verzeichnis auf der BAG-Webseite erstellt, in dem die Modelle, Aktivitäten und Tools steckbriefartig vorgestellt werden. Mittlerweile umfasst das Verzeichnis fast 80 Einträge, von A wie «Aufsuchende Familienarbeit und -therapie» bis Z wie «Zugehende Beratung bei Demenz». Das Verzeichnis wird über das Ende des Forschungsprogramms hinaus weitergeführt und soll damit auch in Zukunft allen an der Interprofessionalität interessierten Akteuren ein Ideenlieferant sein. Einige dieser Modelle wurden in zwei Publikationen ausführlich porträtiert. Sie zeigen, wie die Zusammenarbeit der verschiedenen Fachpersonen (und darüber hinaus) gelingen kann oder wie die IPE gelebt wird.
Vier Policy Briefs
Ein weiteres wichtiges Produkt des Programms waren die vier Policy Briefs für die Bereiche ambulante bzw. stationäre Versorgung, psychisch-somatische Nahtstelle sowie Bildung. Jeder Policy Brief hält jeweils kurz und knapp fest, welche wichtigsten Erkenntnisse aus vier Jahren Forschung gewonnen und welche Empfehlungen daraus abgeleitet werden können. «Wichtig war für uns, dass diese Empfehlungen gemeinsam mit Stakeholdern erarbeitet werden und nun als Leitplanke respektive Grundlage für die weiteren Schritte dienen», so Cinzia Zeltner, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim BAG und zuständige Projektleiterin.
«In einem Spital, in einer Praxis, in einem Alters- und Pflegeheim müssen die IPE und die IPZ von der Führung gelebt und gefördert werden. Nur so kann Interprofessionalität im Berufsalltag gelingen.»
Nach vier Jahren Förderprogramm stellt sich aber auch die Frage: Was braucht es nun, um die IPZ im Gesundheitswesen noch stärker zu verankern? Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist hier die Aus-, Weiter- und Fortbildung. Fachleute im Gesundheitswesen müssen frühzeitig lernen, mit anderen Berufsgruppen zu interagieren. Sie müssen lernen, eine gemeinsame Sprache zu sprechen, eine gemeinsame Haltung zu entwickeln und die Problematik der Schnittstellen zu erkennen. «Entsprechend sollen alle Gesundheitsfachpersonen bereits in der Ausbildung in dieser Thematik geschult werden», so Lara De Simone-Nalotto, wissenschaftliche Projektassistentin beim BAG. Hier hat sich in den vergangenen Jahren einiges zum Guten verändert. Aber bis die Veränderung in der Praxis einen Effekt zeigt, braucht es Jahre, vielleicht Jahrzehnte. Im Kontext des lebenslangen Lernens sollte die IPE einen festen Bestandteil der Weiter- bzw. der Fortbildung werden, damit kollektive Kompetenzen kontinuierlich weiterentwickelt werden (z.B. im Rahmen von Inhouse-Weiterbildungen).
Eine wichtige Rolle nimmt auch die Führung ein, da Fortschritte nur möglich sind, wenn sie gewillt ist, die Interprofessionalität voranzutreiben. In einem Spital, in einer Arztpraxis, in einem Alters- und Pflegeheim müssen die IPE und die IPZ von der Führung gelebt und gefördert werden. Nur so kann Interprofessionalität im Berufsalltag gelingen. Klar ist, dass das Thema auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen wird, denn der drohende Fachkräftemangel wird das Schweizer Gesundheitssystem noch auf Jahre beschäftigen und die Ergebnisse des Förderprogramms zeigen: Eine erfolgreich umgesetzte IPZ kann hier einen Beitrag zur Entlastung leisten.
In den Forschungsprojekten des Förderprogramms konnten sieben gemeinsame Themenstränge identifiziert werden, welche alle auf dem Fundament des gemeinsamen Verständnisses von Interprofessionalität aufbauen mit dem Ziel, die Versorgung patientenorientierter zu gestalten.
Highlights des Förderprogramms 2017–2020
Die Ergebnisse des Förderprogramms bieten Bund, Kantonen, Gemeinden, Berufs- und Bildungsorganisationen sowie Leistungserbringern Instrumente, um die Interprofessionalität im Gesundheitswesen weiter zu stärken.
Forschungsprojekt
Insgesamt wurden 18 Forschungsprojekte finanziert, 3 aus dem Bereich Bildung, 15 aus dem Bereich Berufsausübung. Die dadurch erarbeiteten Erkenntnisse zu interprofessioneller Bildung und Zusammenarbeit dienen als Basis für die Erarbeitung praxisrelevanter Massnahmen.
Onlineverzeichnis
Modelle guter Praxis
Das Verzeichnis enthält Steckbriefe von Modellen guter Praxis mit dem Ziel, die Sichtbarkeit und Vernetzung der in der Schweiz tätigen Akteure zu fördern. Das Verzeichnis bleibt auch nach Ende des Förderprogramms bestehen und ermöglicht Interessierten, Modelle nach verschiedenen Kriterien wie Kanton, Interventionsbereich, Beruf, Setting etc. gezielt zu suchen. Interessierte können Modelle, Initiativen oder Aktivitäten im Bereich der Interprofessionalität einfach und schnell selbstständig eintragen. Der Eintrag kann auf Deutsch, Französisch oder Englisch erfolgen. Das BAG übernimmt die Übersetzung in die anderen Sprachen.
Publikationen
Im Rahmen des Förderprogramms publizierte das BAG zwei Broschüren, die anhand erfolgreicher Beispiele zeigen, wie gelebte Interprofessionalität aussehen kann, wo die Herausforderungen liegen und welche Chancen sich bieten. Die beiden Broschüren (erhältlich auf Deutsch, Französisch und Italienisch) richten sich in erster Linie an die lokalen, regionalen und kantonalen Leistungserbringer bzw. Bildungsanbieter im Gesundheitswesen.
Im Rahmen der Forschungsprojekte wurden zudem Broschüren zur frühzeitigen Intervention bei Kindern und Jugendlichen zur Förderung der psychischen Gesundheit sowie ein Leitfaden für Gesundheitsfachpersonen im Bereich widersprüchliche Einschätzungen publiziert.
Tool zur Erfassung der Interprofessionalität
Wie interprofessionell ist unsere Institution unterwegs? Mit dem «Schweizerischen Interprofessionalitäts-Evaluationsinstrument» (kurz: SIPEI) kann in einer Institution der Ist-Zustand erörtert werden. Das Tool umfasst Fragebögen für die Stufen Mitarbeitende, Vorgesetzte sowie Patientinnen und Patienten und kann sowohl zur Selbstevaluation als auch zur Fremdevaluation angewendet werden (erhältlich auf Deutsch, Französisch und Italienisch). Kontaktperson: .
Vier Policy Briefs
Die wichtigsten Erkenntnisse, die im Rahmen des Förderprogramms gewonnen wurden, wurden in vier Policy Briefs bereichsspezifisch zusammengetragen. Ziel dieser Dokumente ist, den politischen Entscheidungsträgern, Berufsorganisationen, Bildungsverantwortlichen sowie Leistungserbringern eine kurze und knappe Übersicht über bestehende Herausforderungen und mögliche Lösungsansätze zu geben.
Veranstaltungen
Zwei grosse Veranstaltungen wurden durchgeführt: 2018 organisierten das BAG, die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) und die Plattform Interprofessionalität die gemeinsame Tagung «Interprofessionalität im Gesundheitswesen: Better Chronic Care» im Berner Kursaal. Im November 2021 fand die Schlusstagung des Förderprogramms «Interprofessionalität im Gesundheitswesen» statt.