«Wir haben keine starr getrennten Aufgabengebiete»
Okt. 2021Interprofessionalität und koordinierte Versorgung
5 Fragen an Thomas Ihde, Chefarzt Psychiatrie der Berner Oberländer Spitäler fmi AG. In der psychiatrischen Abteilung in Interlaken arbeiten verschiedene Berufsgruppen schon seit über 10 Jahren eng zusammen. Dabei orientiert sich die Verteilung der Aufgaben an den individuellen Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten.
1 Herr Ihde, wie hat sich bei Ihnen in Interlaken die interprofessionelle Zusammenarbeit entwickelt?
Als ich 2008 angefangen habe, arbeiteten 14 Personen auf der Psychiatrie. Heute haben wir 150 Mitarbeitende. Zum Team gehören nicht nur Ärztinnen, Psychologen, Pflegefachpersonen, Sozialarbeiter, Kunst- und Musiktherapeutinnen, sondern auch Genesungsbegleiterinnen und -begleiter. Das sind Personen, die in ihrem Leben schon eigene Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen gemacht haben – und bei uns unter anderem dafür sorgen, dass wir uns alle konstant mit dem Blickwinkel der Betroffenen auseinandersetzen. Dank diesen Peers stellt sich das ganze Team immer auch die Frage: «Was würde ich mir in dieser Situation wünschen?» Verstanden zu werden, ist ein grosser Teil der Antwort.
2 Spielte auch der Mangel an Psychiaterinnen und Psychiatern auf dem Land eine Rolle?
Es ist tatsächlich immer wieder schwierig, hier im Berner Oberland ärztliche Fachkräfte zu rekrutieren – trotz der wunderbaren Aussicht auf die Berge. Doch uns war von Anfang an klar, dass wir einen Versorgungsauftrag für die Region zu erfüllen haben. Deshalb haben wir uns von den traditionellen Vorstellungen von Berufsgruppen mit eindeutig definierten und klar getrennten Rollenbildern gelöst. Wer bei einer Behandlung welche Aufgaben übernimmt, entscheiden wir nicht aufgrund von hierarchischen Führungsstrukturen, sondern ausgehend von den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten. Wir richten unser Angebot personenzentriert aus.
3 Wie muss ich mir diese Personenzentrierung vorstellen?
Wenn Sie vielleicht schon seit einigen Wochen nächtelang wach liegen und sich telefonisch bei uns melden, sprechen Sie mit einem Mitglied unseres Triageteams. Die Mitarbeitenden haben zwar verschiedene berufliche Hintergründe, aber sie haben eines gemeinsam: ein grosses Talent fürs Zuhören. So finden sie rasch heraus, ob Sie eine Behandlung benötigen, und falls ja, welche. Werden Sie bei uns behandelt, so kümmert sich ein fallführendes Mitglied unseres Behandlungsteams in erster Linie um Sie – und zieht bei Bedarf weitere Personen zu. Das fallführende Mitglied ist der Dirigent, der wie im Orchester alle anderen im Team führt.
4 Wo sehen Sie die Vorteile einer solch fluiden Arbeitsaufteilung?
Was eine Psychotherapeutin oder was ein Arzt während der Behandlung macht, unterscheidet sich meist nicht grundlegend. Das Menschliche – die Beziehungsfähigkeit – spielt eine viel wichtigere Rolle als das Fachliche, das vielleicht 20 Prozent ausmacht. Auf ärztliches Fachwissen greifen wir meist zurück, wenn neben psychischen auch körperliche Gesundheitsprobleme vorliegen. Wenn jemand zum Beispiel beschädigte Nieren hat und eine Dialyse benötigt, müssen wir gut abklären, welche Psychopharmaka verträglich sind. Wir haben keine festgelegten Aufgabengebiete, sondern ergänzen uns mit unseren Expertisen so, dass wir möglichst gut auf die Bedürfnisse der Betroffenen eingehen können. Daraus ergibt sich fast wie von selbst eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Wenn man sich von Fall zu Fall unterschiedlich und dauernd anders organisiert, ebnet sich das Machtgefälle etwas ein. Allerdings: Ich will nicht schönreden, dass es auch ungünstige Dynamiken und Mikroentwertungen gibt. Vonseiten der Betroffenen wird Psychologinnen und Psychologen immer wieder vorgeworfen, dass sie «halt schon kein Doktor» seien. Und unser aktuelles Entgeltungssystem wird dem Prinzip vom gleichen Lohn für gleiche Arbeit leider noch nicht gerecht.
5 Und wo liegen die Herausforderungen bei dieser Arbeitsaufteilung?
Im Vergleich zu anderen Branchen – etwa der Finanz- und Versicherungswelt – ist das Personal im Gesundheitswesen sehr konservativ eingestellt. Im Gesundheitsbereich stossen Sie viel rascher auf Ablehnung oder Widerstand, wenn Sie überlieferte Vorgehensweisen infrage stellen und abändern möchten. Hinzu kommt, dass die Schweiz etwa im Vergleich mit angelsächsischen Ländern stark hinterherhinkt, was die Befähigung von nichtärztlichen Berufsgruppen anbelangt. In Grossbritannien gibt es beispielsweise schon seit Langem sogenannte «nurse practitioners», also Pflegefachpersonen mit erweiterten Kompetenzen, die zum Beispiel anstelle einer ärztlichen Fachperson die Lungen abhören können. Mit unserem fluiden Arbeitsmodell fördern wir anpassungsfähige Generalisten – und stemmen uns ein Stück weit gegen den allgemeinen Trend der immer stärkeren Professionalisierung und Spezialisierung im Gesundheitswesen.
Dr. med. Thomas Ihde, Chefarzt Psychiatrie der Spitäler fmi AG in Interlaken.
Illustration: telek.grafik