Sprunglinks

zurück

«Viele Umweltrisiken sind gar nicht auf dem Radar»

Ausgabe Nr. 135
Sep. 2022
Umwelt und Gesundheit

In der Schweiz hat sich die Luftqualität – trotz gestiegenem Verkehrsvolumen – deutlich verbessert. Doch in der Umweltforschung klaffen noch grosse Lücken. Wir sollten inskünftig vermehrt auf eine Umwelt achten, die uns animiert, aktiv zu sein, sagt der Umweltepidemiologe Martin Röösli.

Herr Röösli, leben wir heute in einer gesünderen Umwelt als noch vor 30 Jahren?

So global ist das schwierig zu beantworten, denn einige Umweltfaktoren wie etwa die Feinstaubbelastung haben sich in der Schweiz deutlich verbessert, andere aber wie etwa die Hitzewellen im Sommer haben sich aufgrund der Klimaerwärmung verschlechtert. In vielen Köpfen – und auch in den Medien – sind die negativen und alarmistischen Meldungen zwar präsenter, aber ich persönlich denke, dass sich die Umweltbedingungen hierzulande insgesamt eher verbessert haben. Heute gibt es zum Beispiel viel weniger Holzfeuerungen in Innenräumen, damit fällt auch ein grosser Teil der Luftschadstoffbelastung weg. Dabei ist diese Belastung zahlenmässig der wichtigste Umweltrisikofaktor für die menschliche Gesundheit.

«Im Umweltbereich erreicht man am meisten, wenn man weniger auf das individuelle Verhalten abzielt, sondern Verhältnisprävention betreibt und die Rahmenbedingungen verändert.»

Inwiefern?

Die Wissenschaft stützt sich auf sogenannte Gesundheitsfolgenabschätzungen – oder Health Impact Assessments –, um die von bestimmten Risikofaktoren hervorgerufene Krankheitslast in der Bevölkerung zu berechnen. Die aktuellste solche Abschätzung in der sogenannten Global Burden of Disease Study von 2019 kommt zum Schluss, dass die Luftverschmutzung jährlich weltweit zu 6,5 Millionen vorzeitigen Todesfällen führt, schätzungsweise 3500 davon allein in der Schweiz. Der Feinstaubbelastung fallen also deutlich mehr Menschen zum Opfer als etwa der Hitze, die während eines sehr warmen Sommers bis 1000 zusätzliche Todesfälle fordert.

Das sind eindrückliche Zahlen.

Auch wenn die relativen Gesundheitsrisiken von Schadstoffen in der Umwelt für eine einzelne Person ziemlich klein sind, für die öffentliche Gesundheit haben diese Risiken eine grosse Bedeutung, weil sie sehr viele Leute betreffen. Ich bin deshalb immer etwas im Zwiespalt. Es ist schwierig, einen kommunikativen Mittelweg zu finden – und über Risiken zu sprechen, ohne den Leuten zu viel Angst zu machen, denn auch das wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus. Trotzdem finde ich es wichtig, darzulegen, dass wir als Gesellschaft die Risiken nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten. Denn: Kleinvieh macht auch Mist. Insgesamt sterben aufgrund der gesundheitlichen Auswirkungen von Luftschadstoffen in der Schweiz doch jedes Jahr mehrere Tausend Menschen.

Immerhin hat die Luftschadstoffbelastung in der Schweiz seit den 1990er-Jahren abgenommen. Das ist erstaunlich, wenn man sich vor Augen führt, dass sowohl die Bevölkerung wie auch das Verkehrsvolumen in der gleichen Zeit stark zugenommen haben. Wenn wir heute an der Ampel warten und ein Oldtimer fährt vorbei, fällt uns der Gestank auf. Wir können uns fast nicht mehr vorstellen, dass das früher normal war. Für mich zeigen diese deutlichen Verbesserungen im Strassenverkehr, dass man im Umweltbereich am meisten erreicht, wenn man weniger auf das individuelle Verhalten abzielt, sondern Verhältnisprävention betreibt und die Rahmenbedingungen verändert, indem man zum Beispiel die Katalysatorpflicht und bleifreies Benzin einführt.

Im letzten Jahr hat die Weltgesundheitsorganisation WHO die Richtwerte für Luftschadstoffe nach unten angepasst. Wieso?

In der Umweltforschung deuten immer mehr Erkenntnisse darauf hin, dass es bei vielen Schadstoffen keine unbedenklichen Konzentrationen unterhalb bestimmter Schwellenwerte gibt, sondern dass das Gesundheitsrisiko auch bei tiefen Expositionen ansteigt. Vor zwanzig Jahren, als ich mit Epidemiologie angefangen habe, gab es nur wenige Studien zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Luftschadstoffen. Aufgrund ihrer geringen Grösse konnten diese Studien keine Aussagen zu den Risiken von niedrigen Expositionen machen. Heute gibt es viel mehr und auch grössere Studien, und die Exposition der Bevölkerung lässt sich viel genauer und präziser modellieren. Der Unsicherheitsbereich in diesen Studien ist dadurch viel kleiner geworden. Deshalb gibt es unterdessen relativ gute und zuverlässige Zahlen, die zeigen, dass es auch bei geringen Expositionen einen Effekt gibt.

Eigentlich könnte man sich auch vorstellen, dass eine geringe Belastung gesundheits- fördernd wirkt, weil sie die körpereigenen Abwehr- und Reparaturmechanismen aktiviert und trainiert.

Bei den Luftschadstoffen, aber auch bei den ionisierenden Strahlen lassen die Daten keinen solchen Schluss zu, diese Risikofaktoren sind immer schädlich. Allerdings sieht es bei der UV-Strahlung etwas anders aus, wir brauchen davon eine gewisse Menge, damit unsere Haut Vitamin D produzieren kann. Auch beim Schall gibt es angenehme Geräusche, und in einem schalltoten Raum ist es den meisten Menschen nicht wohl.

Aber abgesehen davon glaube ich persönlich, dass der gesellschaftliche Anspruch auf absolute Risikofreiheit kontraproduktiv ist. Viele Umweltschadstoffe entstehen als Nebeneffekt einer erwünschten Tätigkeit: Wir schätzen die Vorteile der erhöhten Mobilität und sind froh, im Winter unsere Wohnungen heizen zu können. Ich bin überzeugt, dass sich technisch noch einiges machen lässt, um die damit einhergehenden Schadstoffemissionen zu verringern. Und meiner Meinung nach sollten wir das auch tun. Aber wahrscheinlich lassen sich die Emissionen nicht ganz vermeiden.

«Viele Umweltschadstoffe entstehen als Nebeneffekt einer erwünschten Tätigkeit: Wir schätzen die Vorteile der erhöhten Mobilität und sind froh, im Winter unsere Wohnungen heizen zu können.»

Das tönt nicht besonders optimistisch.

Ich sehe noch erhebliches Verbesserungspotenzial. Doch wir sollten inskünftig nicht nur technische Lösungen suchen. Mindestens so wichtig wie weitere Optimierungen am Auspuff von Autos sind integrative Ansätze, in denen es auch um Raumplanung und die Förderung des Langsamverkehrs geht. Wer regelmässig zu Fuss oder auf dem Velo unterwegs ist, lebt gesünder und im Schnitt auch zehn Jahre länger als körperlich inaktive Personen. Dabei geht es weniger um sportliche Höchstleistungen, die man erbringen muss, als vielmehr um ein tägliches Mass an Bewegung, das sich stark auf die Lebenserwartung auswirkt.

Deshalb hat eine Umwelt, die uns animiert, aktiv zu sein, einen grossen Einfluss auf die Gesundheit: Regelmässige Bewegung und Aktivitäten im Fuss- und Veloverkehr verhindern in der Schweiz jedes Jahr rund 12000 Herz-Kreislauf-Erkrankungen und 4000 Fälle von Depression. Gleichzeitig tragen diese Fortbewegungsarten als Ersatz für motorisierten Verkehr zu einer besseren Luftqualität bei.

Wir haben bisher vor allem über Schadstoffe in der Luft gesprochen. Wie sieht die Belastung in den Böden oder im Wasser aus?

In der Schweiz werden rund 20 000 verschiedene chemische Substanzen hergestellt. Viele dieser Stoffe werden in der industriellen Produktion, aber auch in der Landwirtschaft und im Haushalt verwendet. Wie stark die Bevölkerung in der Schweiz durch diese Chemikalien belastet ist, ist weitgehend unbekannt. In der Umweltforschung klafft hier eine grosse Lücke. Wir wissen zwar, dass sich etwa Rückstände von Medikamenten oder auch Pestiziden im Grund- und Trinkwasser nachweisen lassen, aber wie sie sich gesundheitlich auswirken, ist nur bei akuten Vergiftungen gut dokumentiert. Studien zu niedrig dosierten und langfristigen Belastungen sind hingegen mit grossen Unsicherheiten behaftet. Klar tönt es sehr unsympathisch, wenn sich etwa Mikroplastik heute auch in völlig abgelegenen Gebieten oder in der Muttermilch aufspüren lässt. Nur: Ob das auch gesundheitlich problematisch ist, ist noch nicht nachgewiesen.

«Die Luftschadstoffe sind die eigentliche Paradedisziplin in der Umweltforschung, damit hat man vor 40 Jahren angefangen – und heute weiss man sehr viel. Aber der Themenbereich Umwelt und Gesundheit ist mannigfaltig und umfasst viel mehr als die Luftqualität.»

Wo gibt es sonst noch Wissenslücken?

Die Luftschadstoffe sind die eigentliche Paradedisziplin in der Umweltforschung, damit hat man vor 40 Jahren angefangen – und heute weiss man sehr viel. Aber der Themenbereich Umwelt und Gesundheit ist mannigfaltig und umfasst viel mehr als die Luftqualität. Viele andere Umweltrisiken sind gar nicht auf dem Radar. Sie werden zu wenig beachtet, obwohl sie auch relevant und problematisch sind. Zum Beispiel: Bei uns in der Schweiz überschreitet das Nitrat im Trinkwasser an vielen Orten die Grenzwerte. Es gibt einen plausiblen Mechanismus, wie die Nitrataufnahme zu Dickdarmkrebs führen kann. Aber das Thema wird kaum erforscht. Und auch politisch geschieht diesbezüglich nur sehr wenig, die Nitratbelastung des Trinkwassers wird einfach hingenommen.

Darüber hinaus gibt es in der Umwelt- und Gesundheitsforschung mehrere blinde Flecken, die methodisch bedingt sind. Dass es beispielsweise guttut und erholsam ist, in den Wald zu gehen, können fast alle Leute in unserem Kulturkreis unterschreiben. Aber die positiven Effekte auf die Gesundheit lassen sich kaum vernünftig untersuchen. Man kann zwar kurzfristige Effekte erfassen, etwa wie stark sich biologische Stressmarker im Wald reduzieren. Aber ob die Waldbesuche zu einer längeren Lebenserwartung beitragen, lässt sich fast nicht messen, weil hier viel zu viele andere Faktoren mit hineinspielen. Dasselbe gilt auch für die Biodiversität: Natürlich machen artenreiche, schöne Wiesen Freude, aber wie sie unsere Gesundheit beeinflussen, ist sehr schwierig solide zu untersuchen.

Im Gegensatz zur Luftqualität sind viele Umwelteinflüsse auf die Gesundheit noch zu wenig erforscht, beispielsweise der Nitratgehalt im Trinkwasser.

Wer in Waldnähe wohnt, atmet bessere Luft und ist auch weniger Lärm ausgesetzt, als wer in der Nähe einer viel befahrenen Strasse wohnt.

Das stimmt für die meisten Schadstoffe. Aber es können sich nicht alle leisten, in der Nähe von Grünflächen zu wohnen. Wer weniger Geld zur Verfügung hat, muss sich mit anderen Wohnsituationen begnügen, das ist eine riesige Ungerechtigkeit. In den allermeisten Studien, egal zu welchem Thema im Bereich Umwelt und Gesundheit, wird der sozioökonomische Status statistisch herausgerechnet, um eine Verzerrung der Resultate zu vermeiden. Aber ich bin überzeugt, dass die Umwelt- und Arbeitsbedingungen zu einem grossen Teil erklären, wieso Personen mit einem tiefen sozioökonomischen Status eine geringere Lebenserwartung haben als Personen mit einem hohen Einkommen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Dass Fachpersonen aus dem Raumplanungs-, Umwelt- und Public-Health-Bereich verstärkt zusammenarbeiten. Und ganzheitliche Präventionsansätze entwickeln, sodass vermehrt ruhige und schadstoffarme Quartiere mit kurzen, attraktiven Wegen entstehen. Mit Bewegungsförderung erreicht man nicht nur, dass die Gesundheitskosten sinken, sondern auch, dass die Lebensqualität steigt. Wer sich bewegt, ist zufriedener mit seinem Leben.

Prof. Dr. Martin Röösli

Martin Röösli besuchte zunächst das Lehrerseminar in Hitzkirch. Er unterrichtete drei Jahre lang als Primarschullehrer, bevor er an der ETH Zürich ein Studium in Umweltnaturwissenschaften in Angriff nahm. Danach hat Röösli am Lufthygieneamt beider Basel sowie am Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) der Universität Basel zum Thema von Luftschadstoffen und deren Gesundheitsrisiken doktoriert. Von 2003 bis 2009 war er Leiter der Forschungsgruppe Umwelt und Gesundheit am ISPM in Bern. Später kehrte Röösli nach Basel zurück, wo er die Professur für Umweltepidemiologie an der Universität Basel erhielt und zudem die Leitung der Einheit Environmental Exposures and Health am SchweizerischenTropen- und Public-Health-Institut (SwissTPH) übernahm.

Nach oben

Unsere Website verwendet Cookies. So können wir Ihnen das ideale Nutzererlebnis bieten. Mit der weiteren Nutzung unserer Website erklären Sie sich mit unseren Datenschutzbestimmungen einverstanden. Mehr…

OK