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Die Weichen für die neue Suchtstrategie sind gestellt

Ausgabe Nr. 118
Sep. 2017
Suchtprävention – quo vadis?

Suchtpolitik. Der Mensch hat seit jeher bewusstseinsverändernde Substanzen konsumiert, und was eine Gesellschaft unter Sucht versteht, verhandelt diese immer wieder neu. Neben Substanzen wie Alkohol, Tabak, Drogen und Medikamenten kommen neue Substanzen wie Neuro-Enhancer hinzu, während Opiate, die lange im Vordergrund der Aktivitäten von Suchthilfe und -politik standen, in den letzten Jahren an Bedeutung verloren haben. Nebst den anhaltenden Problemlasten, die durch risikoreichen Alkohol- sowie Tabakkonsum entstehen, heisst es auch, sich den neueren Erscheinungsformen der substanzungebundenen Abhängigkeiten zuzuwenden. Die in diesem Jahr angelaufene Nationale Strategie Sucht nimmt sich substanz- wie auch suchtformübergreifend des ganzen Spektrums von Abhängigkeit und Sucht an. Die Strategie nimmt Sucht als umfassendes Phänomen in den Blick, das von wechselwirkenden biologischen, psychologischen und sozioökonomischen Aspekten beeinflusst sowie von aktuellen Konsumtrends und kulturellen Verhaltensweisen abhängig ist. Zusammen mit der NCD-Strategie (1) löst sie ab 2017 die Nationalen Präventionsprogramme Alkohol, Tabak sowie das Massnahmenpaket Drogen ab.

Foto: iStock/Jodi Jacobson

Foto: iStock/Amit Vashisht

Ein kühles Bier zum Feierabend, eine Zigarette in der Pause, ein Schokoladenstängeli zwischendurch. Die News unterwegs auf dem Smartphone lesen, fünfmal die Woche joggen, einen Abend im Casino verbringen, anstossen auf ein freudiges Ereignis. Genuss, Nutzen, Spiel, soziale Rituale: Für die meisten Menschen gehören potenziell abhängig machende Verhaltensweisen zum täglichen Leben. Die Balance zu finden zwischen Genuss und gesundheitsschädigendem Verhalten gelingt nicht allen Menschen gleichermassen. Risikoreiches Verhalten, das in Abhängigkeit oder Sucht mündet, schadet nicht nur dem Individuum und seinem Umfeld, sondern verursacht auch hohe gesellschaftliche Kosten.

Suchtformen und Konsumgewohnheiten sind steten Veränderungen unterworfen und die Gesellschaft ist gefordert, sich immer wieder neu mit ihnen auseinanderzusetzen. Zu einer Auseinandersetzung auf gesellschaftspolitischer Ebene gehören nebst Massnahmen, welche die Weiterentwicklung bewährter Ansätze der Suchthilfe fördern, auch Überlegungen zu präventiv wirksamen Regulierungen auf gesetzlicher Basis. Diese müssen dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung tragen und Rahmenbedingungen für eine zeitgemässe Suchtpolitik schaffen. Mit dem Ende der Nationalen Präventionsprogramme Alkohol, Tabak und dem Massnahmenpaket Drogen Ende 2016 hat der Bund zusammen mit den bisher beteiligten Akteuren die nun vorliegende Strategie Sucht lanciert. Sie ist gleichermassen Referenz- wie Orientierungsrahmen und wird mit koordinierten Massnahmen die Herausforderungen angehen, denen sich eine von Digitalisierung und Globalisierung geprägte Gesellschaft mit ihren «alten» und «neuen » Suchtformen stellen muss.

Schuld oder Mitverantwortung?

Die allermeisten Personen in der Schweiz sind nicht von Sucht betroffen. Sie leben abstinent oder pflegen einen bewussten Umgang mit Genussmitteln und Substanzen. Jene Menschen, deren Grenzen sich von Genuss zu Gebrauch über Abhängigkeit bis zu Sucht verschoben haben, sehen sich mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert und deren Schäden können physisch, psychisch, finanziell und sozial verheerend sein. Auf gesellschaftlicher Ebene sind es sozialökonomische Folgen wie der Ausfall von Arbeitsleistung, die Schwächung von Familienstrukturen sowie finanzielle Kosten in Milliardenhöhe, die durch Suchtprobleme Einzelner entstehen. Dass eine Gesellschaft hier aktiv werden will und muss, ist nicht ausschliesslich ein Akt der Solidarität. Die Fürsorgepflicht des Staates gegenüber seiner Bevölkerung ist auch gesetzlich verankert. Doch es ist nicht diese Pflicht alleine, die den Staat zum Handeln auffordert. Eines der wichtigsten Ziele staatlichen Handelns sollte eine gesunde Bevölkerung sein, denn diese ist Grundlage gesellschaftlicher Stabilität und leistungsfähiger Sozialsysteme.

Mit der Frage nach einem vernünftigen Umgang mit einer Substanz oder einem Verhalten stellt sich immer auch die Frage nach der «Verantwortung» und auch die Frage, wem Hilfe gebührt. Julia Wolf führt im Interview aus, dass jede und jeder Einzelne seinen Anteil an Verantwortung für einen nicht schädigenden Konsum und für die eigene Gesundheit wahrnehmen muss. Sie plädiert für eine «Mitverantwortung», die der Einzelne als Teil der Gesellschaft ebenso trägt wie die Gesellschaft gegenüber seinen Mitgliedern. Für die Umsetzung der Nationalen Strategie Sucht, für eine Suchtpolitik, die die Bevölkerung als Ganzes im Blick hat, und für eine Suchthilfe, die konkret und zielgerichtet ist, heisst dies, immer wieder die Balance zu finden zwischen «Eigenverantwortung stärken» und «die erforderliche Unterstützung niederschwellig anbieten ».

Suchthilfe als Zusammenspiel von vielfältiger Expertise, langjähriger Erfahrung und Innovation

Bund, Kantone, Städte, Gemeinden und Private haben in den vergangenen Jahren Angebote für Menschen geschaffen, die an Abhängigkeitserkrankungen leiden. Die Suchthilfelandschaft besteht aus einem ausdifferenzierten Netz von Unterstützungsangeboten. Die Leistungen sind so vielfältig wie die Erkrankungen an sich: stationäre, abstinenzorientierte Sozialtherapien – mitten in der Stadt oder fernab bei einer Bauernfamilie; Kontakt- und Anlaufstellen, wo schwer Abhängige ihren Stoff in hygienischer Umgebung schadensmindernd konsumieren können; Wohnbegleitung; Drugchecking im Partysetting oder an fixen Standorten; Onlinesuchtberatung, die auch Klienten erreicht, die den Schritt auf eine ambulante Beratungsstelle, zu einem Gespräch von Angesicht zu Angesicht (noch) nicht schaffen; Selbsthilfegruppen für Betroffene oder Angehörige; suchtmedizinische Tageskliniken und Ambulatorien; Arbeitsintegrationsangebote, in denen suchtmittelabhängige Menschen eine Tagesstruktur erhalten oder auch Schritte zurück in den ersten Arbeitsmarkt schaffen; heroingestützte Behandlungen oder Substitutionsangebote bei Opioidabhängigkeit; Rauchstoppberatungen; Frühinterventionen in Schulen; ambulante oder stationäre Entzüge; aufsuchende, mobile Interventionsgruppen im öffentlichen Raum; Notschlafstellen – das Spektrum ist breit und der Erfahrungsschatz reich.

Ein Hauptanliegen der Nationalen Strategie Sucht ist das Weiterentwickeln von den bewährten Ansätzen der Suchthilfe. Bei sich ständig verändernden Rahmenbedingungen ist aber auch Innovation gefragt und der Mut, Strukturen, die in den Anfängen der Suchthilfe angebracht waren, zu hinterfragen und an heutige Möglichkeiten und Anforderungen anzupassen. Ein zentrales Anliegen ist die Verankerung von suchtspezifischem Wissen in der Grundversorgung. Hiermit sind nebst den medizinischen Grundversorgern wie Spitälern und Hausarztpraxen auch weitere Strukturen der sozialen Unterstützungsangebote gemeint: ob auf Sozialdiensten, Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV), bei der Spitex und im Altersheim oder in Schulenund Berufsbildungsangeboten. Wissen im Umgang mit suchtgefährdeten oder abhängigen Personen ist überall dort gefragt, wo wir es mit Menschen und ihren Schicksalen sowie ihrem ganz normalen Alltag zu tun haben. Sucht ist ein transversales Thema und Suchthilfe wird dann gelingen, wenn Kooperationen zwischen verschiedenen Systemen aktiv gesucht und gelebt werden sowie auf die Nutzung von Synergien gesetzt wird. Der interprofessionellen Zusammenarbeit verschiedener Fachpersonen kommt hierbei grosse Bedeutung zu.

Den Fokus verstärkt auf vulnerable und besonders schützenswerte Zielgruppen rücken

Besondere Beachtung erfordern Menschen in vulnerablen Situationen. Dies sind häufig Personen, die bereits aufgrund anderer Umstände marginalisiert werden oder einen schlechteren Zugang zu Informations- und Unterstützungsangeboten haben. Es kann Menschen mit einer psychischen Erkrankung betreffen, traumatisierte Migrantinnen und Migranten, aber auch Kinder und Jugendliche aus Familien mit einem sozioökono-misch tiefen Status oder Menschen im Strafvollzug. Es gilt, den Zugang zu Hilfsangeboten auf die unterschiedlichen Bedürfnisse angepasst und niederschwellig zu gestalten. Gerade in Zeiten begrenzter Finanzen heisst es, die knappen Mittel dort einzusetzen, wo die grösste Dringlichkeit ausgemacht wird.

Kindern und Jugendlichen gilt ein besonderes Augenmerk. Schon bei jüngeren Schulkindern können die Förderung von Selbstwirksamkeit und sozialen Kompetenzen im Miteinander als Suchtprävention wirken. Themenübergreifende Massnahmen zur Stärkung von Ressourcen werden ergänzt durch spezifische Massnahmen, die auf einen verantwortungsvollen Umgang mit Suchtmitteln zielen und im Sinne einer Früherkennung und Frühintervention dort ansetzen, wo sich Probleme zeigen könnten oder bereits zeigen. Ergänzt werden solche pädagogischen Ansätze von Jugendschutzbestimmungen. Auch hier setzt die Nationale Strategie Sucht an und unterstützt die Akteure beim Vollzug von Gesetzesbestimmungen durch geeignete Instrumente und wissenschaftliche Grundlagen.

Neugierde und das Testen von Grenzen gehören zur Adoleszenz. Wichtige Entwicklungsaufgaben des Jugendalters sind das Einschätzen von Risiken und der Umgang mit Versuchungen. Prävention soll dort ansetzen, wo sie junge Menschen befähigt, sich zu informieren und Entscheidungen bewusst zu treffen. Hier ist die Adaption von bewährten Sensibilisierungs- und Informationsmaterialien auf neue Kanäle und die Nutzung neuer Technologien ein zentraler Ansatzpunkt zur Weiterentwicklung von Suchthilfe und -prävention.

Die Nationale Strategie Sucht (2017–2024)

Die vorliegende Strategie erfindet das Rad nicht neu. Sie baut auf die seit Jahren bewährte und erfolgreiche Viersäulensuchtpolitik auf und bietet Boden für Weiterentwicklung. Sie dient gleichermassen als Referenz- und Orientierungsrahmen für die Akteure der Suchthilfe und legt einen Schwerpunkt auf die Koordination und die Nutzung von Synergien. Angebote werden nicht mehr nur auf einzelne Substanzen oder Verhaltensweisen ausgerichtet, sondern betrachten den Menschen auch in seiner Sucht umfassend, entlang seiner Lebensphasen, den dort möglicherweise auftretenden Krisensituationen und dem damit erhöhten Risiko, in eine Sucht zu geraten. Die bewährten vier Säulen werden durch vier steuerungsorientierte Handlungsfelder ergänzt, die Querschnittsaufgaben beschreiben und der Steuerung und Koordination dienen:

  1. Gesundheitsförderung, Prävention und Früherkennung
  2. Therapie und Beratung
  3. Schadensminderung und Risikominimierung sowie
  4. Regulierung und Vollzug.

Ein Fokus auf die Verhaltenssüchte

Verhaltenssüchte oder substanzungebundene Abhängigkeiten finden in der Nationalen Strategie Sucht vermehrt Beachtung. Dieses breite Spektrum von problematischen Verhaltensweisen erfordert Expertise und den Wissenstransfer unter Suchthilfeinstitutionen und Multiplikatoren. Die problematische und entwicklungsschädigende Nutzung von Internet bei Kindern und Jugendlichen sei hier genannt: Das Spektrum der Ausprägungen ist breit und reicht von Cybermobbing über Onlinegames bis hin zum exzessiven Konsum von pornografischen Inhalten. Muskelsucht, Anabolikamissbrauch, Körperbild- und Essstörungen sind weitere Felder. Die Geldspielsucht in realen Casinos oder online, die Betroffene mit lebenslangen Geldschulden zurücklassen kann, ist als Suchtthematik seit Längerem bekannt und wird mit verschiedenen Angeboten angegangen. Unser Interviewpartner Renanto Poespodihardjo (siehe Interview) wünscht sich auch für die in der Öffentlichkeit kaum als Problem wahrgenommene Kaufsucht mehr Beachtung. Insgesamt seien im Bereich der Verhaltenssüchte sehr viel mehr Aufklärung und Informationen von Seiten des Bundes nötig.

Weitere Aufgaben des Bundes: Koordination, Forschung, Best- Practice-Beispiele und internationaler Austausch

Wichtig sind auch in dieser Strategie die koordinative Arbeit des Bundes und die Bereitstellung von evidenzbasiertem Material und von Best-Practice-Beispielen, die die Kantone, Städte, Gemeinden wie auch NGO für ihre Zwecke nutzen können. Nicht jeder muss eigene Konzepte entwickeln, und nicht alle Kantone und Akteure stehen vor denselben Herausforderungen. Diese sind aufgerufen, gemeinsam Überlegungen anzustellen, wer wo welche Angebote bereitstellt beziehungsweise, wie sie gemeinsame Projekte etablieren und koordinieren können.

Probleme und Sorgen um die Gesundheit der Bevölkerung kann die nationale Gesundheitspolitik aber nicht alleine bewältigen. Der Einbezug anderer Politikbereiche hin zu einer umfassenden Gesundheitspolitik ist und bleibt unabdingbar. In der Suchtpolitik sind Justiz und Polizei bereits wichtige Partner im Bereich der Regulierung und des Vollzugs. Und: Die meisten Entwicklungen im Suchtbereich machen auch vor Landesgrenzen nicht halt. Der Erfahrungsaustausch mit Partnerländern und die Mitarbeit bei der Entwicklung und Umsetzung internationaler suchtrelevanter Vereinbarungen bleiben wichtig.

(1) NCD = engl. non-communicable diseases, dt. nichtübertragbare Krankheiten

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Kontakt

Markus Jann, Leiter Sektion Politische Grundlagen und Vollzug,

Mirjam Weber, Projektleiterin Nationale Strategien Sucht,

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