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«Der Glücksspieler, der 100 000 Franken verliert, wird als dissozial, charakterschwach und als verschwenderisch stigmatisiert.»

Ausgabe Nr. 118
Sep. 2017
Suchtprävention – quo vadis?

Verhaltenssüchte / 5 Fragen an ... Unser Gesprächspartner Renanto Poespodihardjo ist seit 2009 leitender Psychologe Ambulanz für Verhaltenssüchte an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel. Zuvor hat er viele Jahre im Bereich der Heroinabhängigkeit und der anderen illegalen Drogen gearbeitet. Einst mit 50 Prozent dotiert, ist sein Tätigkeitsbereich heute auf eine ganze Abteilung angewachsen. Zusammen mit seinem Team bildet er ein Kompetenzzentrum für Verhaltenssüchte. Im Interview erklärt er uns, was Verhaltenssüchte sind, was sie anrichten können und wie etwa Schadensminderung im Bereich der Glücksspielsucht ausschauen könnte.

Kann man etwa bei Jugendlichen im Zusammenhang mit exzessivem Computerspiel oder Handynutzung bereits von Sucht sprechen?

Ich würde sagen, ja. Und zwar dann, wenn wir die Jugendlichen nicht mehr erreichen können und Entwicklungsaufgaben im realen Leben, d.h. solche schulischer, beruflicher und sozialer Art gefährdet sind und persönliche Kompetenzen vernachlässigt werden. Solche Zustände und Defizite verhindern, dass sie an den Erfahrungen im realen Leben teilhaben. Wir sind aber in dieser Welt geboren: Gäbe es eine Matrix, welche uns mit sämtlichen Grundbedürfnissen versorgt, dann könnten wir uns entscheiden, ob wir in ihr oder ausserhalb von ihr leben möchten. Dann wäre nicht mehr von einer Sucht oder einem Problem die Rede, sondern es wäre eine Lebensentscheidung.

Allerdings ist noch nicht abschliessend erforscht, ob wir bei der sogenannten Game- und Handysucht von einer «Suchterkrankung» im klassischen Sinne sprechen können.

Worin unterscheiden sich Verhaltenssüchte von Süchten wie der Alkohol-, Tabak- oder Medikamenten- und Drogensucht?

Ein erster Unterschied besteht darin, dass ich bei der Verhaltenssucht keine Substanzen zu mir nehme und diese nicht psychoaktiv oder organschädigend sind. Es entwickeln sich auch keine körperlichen Entzugserscheinungen. Es entsteht jedoch eine psychische Abhängigkeit, die sich auf mein Wohlbefinden und teilweise auf meine Steuerungsfähigkeit auswirken kann.

Ein zweiter Unterschied ist, dass die kognitive Leistungsfähigkeit bestehen bleibt, wenn keine Komorbiditäten in Bezug auf Substanzen bestehen. Das hat Implikationen auf die Behandlung.

Ein dritter Unterschied, in dem sich die beiden Suchtausprägungen unterscheiden, ist die soziale Stigmatisierung. Heute haben wir erreicht, dass wir von einer Alkoholkrankheit sprechen können. Anders sieht es zum Beispiel bei der Geldspielsucht aus. Der Geldspielsüchtige, der 100 000 Franken verliert, wird als dissozial, charakterschwach und verschwenderisch bezeichnet. Diese Stigmatisierung setzt sich bis in die Rechtsprechung fort.

Kaufsüchtige wiederum leiden darunter, dass ihre Krankheit gar nicht als solche wahrgenommen wird, was sie ist: eine schwerwiegende psychische Belastung. Eine Suche im Internet nach dem Begriff «Kaufsucht» fördert Frauen in tollen Kleidern zutage und zeigt, wie unproblematisch die Gesellschaft damit umgeht. Die Kaufsucht ist zwar nicht in den Leitfäden ICD-10 und DSM-5 (1) aufgelistet, neuere Prävalenzdaten weisen aber darauf hin, dass die Kaufsucht innerhalb der Verhaltenssüchte die höchsten Werte aufweist.

Sind die Verhaltenssüchte in der Schweiz überhaupt ein Problem der öffentlichen Gesundheit?

Geht man davon aus, dass Gesundheit mit Wohlergehen und Lebensqualität einhergeht und sie ein wichtiger Marker für das «im Fluss» und «entwicklungsfähig » Bleiben ist, dann ist die Verhaltenssucht ein Thema.

Es gibt wohl keine Familie mit Kindern und Jugendlichen, in denen das Konsumverhalten von digitalen Medien nicht zur Diskussion steht. Die Vielzahl an Medienkompetenzangeboten von privaten Anbietern und kantonalen Einrichtungen führt allerdings zu einer undurchsichtigen Marktlage, die dem Anliegen eher hinderlich ist. Viele wissen gar nicht, was eine Verhaltenssucht überhaupt ist. Die qualitativen Grundlagen sind oftmals noch zu wenig ausgereift. Denn wie beschreibt man einen exzessiven Internetgebrauch, welches sind Qualitätskriterien für Behandlungsangebote und Strukturen der Zusammenarbeit, mit welcher Zielführung will man welchen Fortschritt erreichen? Was den Internetgebrauch betrifft, muss verstärkt gesamtgesellschaftlich informiert, sensibilisiert und diskutiert werden. Der Glückspielbereich stellt ein Problem dar, das strukturell angegangen werden muss. Die Schweiz unterhält pro Kopf weltweit am meisten Spielcasinos und jedes Jahr werden von Neuem rund 3 000 Spieler gesperrt. Süchtige Spieler, die 100 000 Franken im Glücksspiel verlieren, werden ihre Schulden in der Regel lebenslang nicht zurückzahlen können. Für diese Folgeschäden des Glücksspiels kommt der Spieler selbst auf. Bedenkt man, wohin das Geld fliesst, nämlich in die Kantons- und Bundeskassen ...

Ganz anders etwa bei einem nicht chronisch alkoholkranken Menschen. Dessen Körper erholt sich nach einer erfolgreichen Behandlung der Sucht relativ gut, wenn nicht durch die Sucht bereits irreparable gesundheitliche Schäden entstanden sind.

Die neue Strategie Sucht des Bundes überträgt das Viersäulenmodell der Suchtpolitik auch auf die Verhaltenssüchte. Was muss man sich z.B. unter Schadensminderung im Bereich Glücksspielsucht vorstellen?

Basierend auf dem erfolgreichen Viersäulenprinzip der Suchtpolitik müssen wir klar feststellen, dass Strukturen der «Schadensminderung» heute noch kaum angedacht, geschweige denn umgesetzt wurden. Im Sinne dieser Politik ist die Aufgabe des Bundes, mögliche Interventionen mit den Sozialpartnern zu bedenken und entsprechende Erfahrungen zu sammeln. Rund 3'000 neu gesperrte Glücksspieler pro Jahr in den Casinos, ein Ansteigen des Internetglücksspielkonsums sowie die Ausweitung des illegalen Glücksspiels machen dies notwendig. Entsprechend der erfolgreichen «heroingestützten Behandlungszentren » wären ähnliche Strukturen im Bereich des Geldspiels vorstellbar. Dies bedürfe aber eines Um- und Neudenkens, welches in dieser Form noch ohne Beispiel ist. Darin würden chronisch glücksspielsüchtige Menschen ein kontrolliertes Glücksspielprodukt erhalten, welches schadensmindernd wirkt sowie sozial- und arbeitsintegrativ vernetzt ist.

Gibt es etwas, das in der neuen Suchtstrategie nach wie vor zu wenig bedacht wird? Gibt es Ihrerseits Kritikpunkte an der Schweizer Suchtpolitik?

Es wäre vermessen von mir, die Schweizer Suchtpolitik beurteilen zu wollen. Sie ist grundsätzlich in vielen Bereichen für zahlreiche Länder beispielhaft. Als durchaus kritischer Bürger denke ich jedoch, dass es jetzt an der Zeit ist, wichtige Diskussionen zu führen. Wir sehen, wie weit uns die liberale Politik im Bereich Tabak gebracht hat. Sie hat uns viele Jahre der Prävention und viele Menschenleben gekostet. Wir sollten mit den Anbietern von Produkten und Plattformen konstruktiv, transparent und kritisch zusammenarbeiten und uns etwa fragen, wo ein gemeinsames Risikomanagement möglich ist. Dabei müssen wir von der Prämisse ausgehen, dass wir alle einen Beitrag zur Steigerung der Lebensqualität leisten wollen, wie das auch im Bereich der Ernährung langsam seine Wirkung zeigt. Das Bundesamt für Gesundheit muss auf einem Mitspracherecht beharren, wenn Themen der Gesundheit betroffen sind. Und wenn das nicht möglich gemacht wird, dann muss das öffentlich benannt werden.

(1) vgl. den Kriterienkatalog ICD-10 der WHO (www.who.int/classifications/icd/en) sowie das Manual DSM-5 der American Psychiatric Association (www.psychiatry.org/psychiatrists/practice/dsm)

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