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Früherkennung und Frühintervention im Wandel

Ausgabe Nr. 118
Sep. 2017
Suchtprävention – quo vadis?

F+F. Die Früherkennung und Frühintervention (F+F) hat ihren Ursprung in der Arbeit mit gefährdeten Kindern und Jugendlichen. Das vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) entwickelte psychosoziale Gefährdungsmodell (1) geht davon aus, dass etwa 10 bis 20 Prozent der Jugendlichen gefährdet sind, gesundheitliche Probleme oder psychische Belastungen zu entwickeln.

Die Früherkennung ist ein Ansatz der indizierten Prävention. Er bezeichnet das frühzeitige Wahrnehmen von Belastungen und Anzeichen einer möglicherweise beeinträchtigten psychosozialen Entwicklung durch Bezugspersonen. Darauf folgt gegebenenfalls eine professionelle Einschätzung durch Fachpersonen und/oder Fachstellen. In der Frühintervention entwickeln Fachleute gemeinsam mit Bezugspersonen und den als gefährdet erachteten Kindern und Jugendlichen unterstützende Massnahmen und setzen diese um. Das Programm supra f, das auf Initiative des BAG Ende der 1990er-Jahre von Infodrog entwickelt wurde und bis 2009 dauerte, umfasste sozialpädagogische und psychologische Interventionen, um die Situation der gefährdeten Jugendlichen in der Schule oder Berufslehre zu stabilisieren. Von 2006 bis 2015 wurden zudem im Auftrag des BAG durch Radix F+F-Programme in Schulen und Gemeinden der Romandie und der Deutschschweiz lanciert. 2011 wurde von Fachleuten eine gemeinsame Wertehaltung in Form einer «Charta F+F bei gefährdeten Kindern und Jugendlichen» erarbeitet.

Die neue Charta: Lebensphasen und Rahmenbedingungen werden zum Thema

Eine 2014 vom BAG in Auftrag gegebene Situationsanalyse zeigte, dass F+F von den Fachleuten in der Praxis als themenübergreifender und altersunabhängiger Ansatz angewendet wird. Eine Gefährdung kann sich also auf riskantes Verhalten unterschiedlicher Art beziehen, z.B. Suchtmittelkonsum, Gewalt, exzessiven Medienkonsum oder auch Essstörungen und Medikamentenmissbrauch. Daher wurde 2015/2016 die F+F-Charta unter Einbezug aller nationalen Akteure (2) erweitert. Grundhaltungen und Werte sind dieselben geblieben, neu bezieht sie sich auf alle Lebensphasen und riskanten Verhaltensweisen. Die Charta formuliert zudem den Anspruch an F+F, sich für gesundheitsförderliche Rahmenbedingungen einzusetzen. Sie anerkennt darüber hinaus beispielsweise das Recht auf Anderssein und Selbstbestimmung und sieht eine wertschätzende Beziehung zu den Betroffenen als Grundlage für eine wirksame abgestimmte Frühintervention. Die Charta hält zudem fest: «Die Förderung und Implementierung braucht einen klaren Auftrag auf politischer und institutioneller Ebene sowie finanzielle, zeitliche und personelle Ressourcen.»

​F+F und die Strategien Sucht und NCD

Die neue Charta und die Strategien Sucht und Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (NCD), welche seit 2017 umgesetzt werden, schaffen übergreifende Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung des bewährten F+F-Ansatzes. Im Handlungsfeld «Gesundheitsförderung, Prävention und Früherkennung» der Strategie Sucht wird das Ziel «Prävention von Sucht und Früherkennung von Suchtverhalten» formuliert. Es ist geplant, den Ansatz weiterzuentwickeln, weiterhin die Akteure zu vernetzen, Grundlagenarbeit zu leisten sowie die Früherkennung und Frühintervention in der Arbeitswelt zu verankern. Die NCDStrategie sieht Früherkennung als Teil von Gesundheitsförderung und Prävention im Lebensphasenansatz und als Methode, erhöhte Krankheitsrisiken in der Gesundheitsversorgung zu erkennen.

F+F heute und in Zukunft

Schon heute werden von den Partnern Grundlagen und Instrumente entwickelt, welche die Akteure in der Praxis darin unterstützen, F+F in einem erweiterten Sinne (neue Charta, Lebensphasen) anzuwenden. So organisieren die Suchtfachverbände Fachverband Sucht und Groupement romand d’études aux addictions (GREA) regelmässige Austauschtreffen und Weiterbildungen für Berufsleute oder lancieren Pilotprojekte, z.B. zur Zusammenarbeit zwischen der Polizei und sozialen Institutionen oder mit der Hauspflege. Im Tessin werden mithilfe der Unterstützung von Radix Projekte etwa in der Berufsschule und für Ferienlager realisiert.

Parallel dazu entwickelt das BAG den F+F-Ansatz weiter, basierend auf den bestehenden Erfahrungen. Mit der Unterstützung der Partner und den Akteuren soll ein Umsetzungskonzept für die Verbreitung und Verankerung von F+F in allen Lebensphasen und Settings entstehen, in denen sich Ursachen für Risikoverhalten ausmachen lassen. Das Konzept berücksichtigt auch neue Risiken wie exzessive Internetnutzung oder Onlinegeldspiele. Eine Priorität sieht das BAG darin, den Ansatz F+F in der Arbeitswelt sowie der medizinischen Grundversorgung breiter zu verankern.

(1) vgl. Handbuch «Jugendliche richtig anpacken – Früherkennung und Frühintervention bei gefährdeten Jugendlichen», BAG, 2008, S. 18, http://bit.ly/2tCMpSV

(2) Die Charta wird von folgenden Partnerorganisationen getragen: Avenir Social, Fachverband Sucht, Groupement romand d’études aux addictions (GREA), Infodrog, Radix, Sucht Schweiz, Schweizerische Gesellschaft für Suchtmedizin (SSAM), Ticino Addiction, Bundesamt für Gesundheit (BAG), Konferenz der Kantonalen Beauftragten für Suchtfragen (KKBS), Städtische Konferenz der Beauftragten für Suchtfragen (SKBS), Vereinigung der Beauftragten für Gesundheitsförderung in der Schweiz (VBGF), siehe http://www.avenirsocial.ch/de/p42015381.html

SafeZone.ch – ein atypisches F+F-Projekt

Schätzungen gehen davon aus, dass nur ein Bruchteil der Menschen mit einer Abhängigkeit überhaupt in Beratung oder Behandlung ist. Auch für Betroffene und Angehörige, die sich Fragen zum Konsum stellen, greifen die bestehenden Angebote nicht immer. Die Schwelle, eine lokale klassische Suchtberatung aufzusuchen, kann für Betroffene aus unterschiedlichen Gründen zu hoch sein: ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Anonymität, Unbehagen im Face-to-Face-Setting, geografische Distanz usw. Wichtige Faktoren sind auch Scham und die Angst vor Stigmatisierung, da Sucht immer noch ein Tabuthema ist. Hier setzt SafeZone an. Auf der Onlineplattform zu Suchtfragen können sich Betroffene, Angehörige und Fachleute anonym und kostenlos per Mail, im Chat oder Forum beraten lassen. Zudem stehen Informationen zu Substanzen, Selbsttests und Links zu lokalen Fachstellen zur Verfügung. Die Beratungen werden von erfahrenen und spezifisch für Onlineberatung ausgebildeten Fachleuten durchgeführt. Das Projekt wurde 2014 in einer Kooperation zwischen Bund, Kantonen und Institutionen lanciert.

Seniorennetz Vernier: Früherkennung von sozialer Isolation ¶

Das Seniorennetz Vernier (Réseau Seniors Vernier, RSV) verfolgt das Ziel, personalisiert auf die Bedürfnisse älterer Menschen einzugehen, denen eine Schwächung ihrer sozialen Bindungen oder sogar die soziale Isolation droht. Dabei sollen die Ressourcen dieser Menschen wie auch diejenigen des Seniorennetzes optimal genutzt werden. Das RSV wählt einen proaktiven Ansatz der Nähe, um die Zielgruppe zu erreichen. Es unterstützt die Betroffenen je nach Anliegen und bietet bei Bedarf personalisierte, originelle Lösungen. Es reagiert rasch und flexibel je nach Interventionsbedarf. Das RSV stützt sich auf seine speziell geschulten und betreuten freiwilligen Helferinnen und Helfer sowie eine Gruppe solidarischer Einwohnerinnen und Einwohner. Es unterstützt auch die Arbeit pflegender Angehöriger und arbeitet vernetzt mit lokalen und kantonalen Einrichtungen. Bis heute hat das RSV rund 280 Dossiers betreut. Es handelt sich um ein Radix-Projekt, das in Zusammenarbeit mit der Stadt Vernier umgesetzt wird (Délégation aux seniors, Service de la cohésion sociale, SCOS, siehe http://bit.ly/2v1yFEN).

Kontakt

Tina Hofmann, Sektion Gesundheitsförderung und Prävention,

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